Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Schuh ist größer als der andere, aber immerhin fallen sie ihr nicht von den Füßen. Ihre gesamte Kleidung hat sie dem Wind entrissen: ein weißes Hemd, das sich in einer Akazie verfangen hatte, ein rotes Kleid, das verlassen am Wegrand entlangwirbelte, eine Baumwollhose, die über einem Stromkabel baumelte. Sie zieht diese von Geistern zurückgelassenen Kleidungsstücke an und wird selbst zu einem noch größeren Geist, der von den Passanten nicht bemerkt wird, über den man stolpert, auf den man tritt.
Deqo klammert sich an das Gestrüpp und zieht sich die steile Böschung hinauf, nimmt sich vor den Dornen, die sich gern in die Haut bohren, und den Kothaufen im Staub in Acht. Nur zwei Brücken führen über den Graben, diese hier aus Beton und eine andere aus Seilen in der Nähe des Sha’ab-Viertels, die beim Überqueren bedrohlich schwankt. Das Gebüsch unter der Betonbrücke ist mit Müll übersät. In den sechs Wochen, die Deqo jetzt in Hargeisa ist, hat sie viele Menschen getroffen, die sie kennt oder die ihr vage aus dem Lager bei dieser Brücke bekannt sind. Die Männer stechen in dunkelblau-weinrot karierten Sarongs hervor, die wahrscheinlich von einem einzigen Händler aus Dire Dawa an ganz Ogaden verkauft werden. Sie sehen ohne Ausnahme alt und vertraut aus, o-beinig, die Wangen eingefallen, die Rücken gebeugt, das Haar verfilzt. Mancher erwidert Deqos Blick mit einem Blitzen aus den Augenwinkeln, das die Wolken ihrer Erinnerung an Saba’ad durchdringt, und dann fällt es ihr wieder ein: Dieser Mann vermieteteeinen Schubkarren, jener half in der Klinik mit und der dort verkaufte Ziegenmilch.
Heute überqueren nur ein paar Menschen die Brücke, und so kann Deqo, ohne jemandem ausweichen zu müssen, die Hand über das Eisengeländer gleiten lassen, dessen weiße Farbe abblättert. Neben ihr bremsen Lastwagen und Toyotas ab, lavieren über den demolierten Asphalt. Auf dem Weg von Nord- nach Südhargeisa hört sie Gesang. Aus der Ferne taucht eine Flottille von Fäusten auf, nähert sich ihr, wie mit der Flut herangespült. Skandierend stoßen die Schulkinder in pastellfarbenen Uniformen die geballten Hände in die Luft: «Schluss mit Verhaftungen, Schluss mit dem Töten, Schluss mit der Diktatur!» Ihre Gesichter sind aufrichtig und glücklich, die Umrisse der einzelnen Körper verschwimmen im Fluss der Bewegung. Sie versperren die Straße vor ihr, daher wartet Deqo auf der Brücke und nimmt die Schüler näher in Augenschein. Die Brücke vibriert unter den hundert oder zweihundert Füßen, die über die zerbrechliche Konstruktion trampeln. Inmitten der Menge macht Deqo einige Kinder ohne Uniform und ein paar junge Männer aus, die schon zu alt für die Schule sind. Sie singen ein ihr unbekanntes Lied: «Hargeisa
ha noolaato
, lang lebe Hargeisa!» Die Kinder, die direkt an ihr vorbeikommen, mustern sie von oben bis unten und rümpfen die Nase.
Deqo lehnt sich mit dem Rücken gegen das Eisengeländer und beobachtet, wie die Kinder eine Schau abziehen. Ihr ganzes Leben hat sie damit verbracht, zu beobachten, ihr gehören die Augen, die ständig hinter Ecken und Felsen hervorlinsen und jeden mit ihrer Wachsamkeit zur Weißglut bringen. Seit sie aber ihre Freundin Anab verloren hat, gibt es niemanden mehr, mit dem sie sich abends gemeinsam hinlegen, niemanden, mit dem sie ihre Geheimnisse teilen kann, die stattdessen in ihrem Kopf Wurzeln schlagen und im Mulch ihres verworrenen Lebens gedeihen.
Dicht an dicht drängen sich die Schüler auf der Brücke, eine sich vorwärtsschiebende Masse in Blau, Rosa und Kaki. Deqo blickt zum nördlichen Ende der Brücke und zu den Soldaten mit rotem Barett, die sich dort auf der Straße zu einer Reihe formiert haben. Sie findet sie attraktiv,ihr gefällt das Flaschengrün der Uniformen, das Gold der Epauletten, die keck schräg sitzende berühmte Kopfbedeckung; sie mag sogar die silbernen Pistolen, die ihnen wie Schmuck von den Hüften hängen.
Die Schüler schweigen nervös, und als eine Pfeife schrillt, rennen sie kreischend zurück in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Die großen, schlanken Soldaten ziehen Schlagstöcke und setzen den Kindern nach. Deqo wird ins Gewühl gezogen und schließt sich den Fliehenden an, damit sie nicht zertrampelt wird. Sie kommt sich vor wie ein Schaf, das ins Gehege getrieben wird. Hände packen sie und schieben sich an ihr vorbei, manche zerren sie beinahe zu Boden, aber es gibt keinen Fluchtweg, das südliche Ende der
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