Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Fenster und schlägt mit der Hand gegen die Scheibe.
Sie hastet in die Küche zurück, ganz beschämt, dass sie beim Spionieren erwischt worden ist, und zieht sich die Decke über den Kopf; sie ballt die Fäuste und gräbt sich die Nägel ins Fleisch, wütend, dass sie Nasra verärgert hat. Sie weint nicht, sitzt mit dem Rücken an der Wand und fühlt sich verlassen. Schließlich hört sie den Mann durch die Hintertür verschwinden. Deqo verbringt eine weitere schlaflose Nacht in der Küche, ihr Gefühl der Sicherheit ist erschüttert, und sie rechnet damit, dass mitten in der Nacht weitere Riesen vor ihr auftauchen, die die Mauer übersprungen haben, und ihr mit einem Gewehr, einem Messer oder einfach mit ihren starken Händen den Atem abschnüren.
Deqo wacht spät auf, geweckt vom Tappen der Schritte um sie herum. Ein paar Zentimeter von ihren Füßen entfernt glüht der Holzkohleofen, und Stalin tritt ihr gegen das Bein, damit sie Platz macht.
«Deqo, hol uns Zucker aus dem Laden», bittet Nasra, die das Feuer anfacht, und holt ein Bündel Geldscheine aus ihrem BH.
Mit verquollenen Augen nimmt Deqo ihr
caday
von der Matte und stolpert auf die Straße, putzt sich beim Gehen die Zähne. Eine Kakofonie bricht über sie herein, krähende Junghähne, schreiende Esel, die sich gegen ihr Geschirr wehren, kleine Jungen in Uniform, die sich balgen, Frauen, die vor ihren Ziegen Futtereimer schwenken und der Trommelschlag halbwüchsiger Mädchen, die Teppiche klopfen. Sie bleibt stehen, beobachtet eine Katze, die ihre um sie herum maunzenden Jungen säugt, und stapft weiter zum Laden an der Ecke, zufrieden mit ihrem neuen Platz in der Welt.
Im Lager kam es einem so vor, als brächte jeder Tag neues Unheil – mal ein Feuer, der wiederholte Ausbruch einer Krankheit oder ein unerwarteter Tod; das Leben war ein Drahtseilakt, jeder Schritt musste behutsam gesetzt werden. Hin und wieder ahmten Deqo und Anab die deutschen Ärzte im Lager nach, indem sie einander den Puls fühlten, die Hand zum Temperaturmessen auf die Stirn legten und mit Stöcken auf ihre Gelenke klopften; sie machten sich darüber lustig, aber stets lauerte in ihnen die Angst, krank zu werden. Von den Kindern im Waisenhauswaren bereits fünf gestorben, drei an einer Krankheit, zwei bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Clans. Sie erinnert sich an die Röhren aus Schilfmatten, in die man sie vor dem Begräbnis gewickelt hatte, die Rollen so klein und dünn, dass sie Zigaretten ähnelten.
Während der Clankämpfe, bei denen die beiden Jungen starben, wurden die Entwicklungshelfer für ein paar Tage weggeschickt, und da dämmerte es Deqo, dass sie woanders zu Hause waren, dass dieses Lager für sie nur eines von vielen war, ihr richtiges Zuhause weit entfernt lag, in einem sicheren und wohlhabenden Land. Schwester Doreen war die Einzige, die zurückblieb. Sie war wie ein Maultier, unermüdlich, klaglos; je heftiger es im Lager zuging, desto begeisterter schien sie. Sie hatte versucht, Anab und Deqo von ihrer Kindheit in Irland zu erzählen; sie habe ein Pony gehabt, sagte sie, und Kühe, und soweit sie sich erinnern könne, habe es fast jeden Tag geregnet, und der Regen sei keineswegs von der Sorte gewesen, nach der sich die Leute hier sehnten, sondern eine spitznadelige, kalte, unerbittliche Angelegenheit, die ihrer Großmutter in die Knochen gefahren sei. Deqo hatte gern mit Schwester Doreens langem, von Grau durchzogenem Haar gespielt, während diese sprach, und sich vorgestellt, es sei der Schweif ihres eigenen Pferdes. Schwester Doreen mochte es, wenn Deqo ihre kühlen Finger auf die rote, verbrannte Haut ihrer Schultern legte, die nicht braun werden wollte wie der Rest der Arme. Schwester Doreen war gut; sie verlieh diesem Wort eine Bedeutung, wie es nur wenige Menschen taten.
Sehnsucht nach der Frau, um die sich ihr Leben einst drehte, überfällt Deqo. Sie fragt sich, wie die Guddi Schwester Doreen ihr Verschwinden erklären werden. Wahrscheinlich werden sie einfach ohne eine Erklärung ihren Namen aus dem Register streichen; keiner wagt, sie in ihre Schranken zu weisen, die Entwicklungshelfer schon gar nicht, die tun müssen, was ihnen die in Jeeps durch das Lager rumpelnden bewaffneten Polizisten vorschreiben. Ein paar Schritte vor dem Laden, der sich in einer Wellblechhütte befindet, wendet sich Deqos Aufmerksamkeit von dem blauen, mit weißen Kondensstreifen durchkreuzten Himmel derStraße zu; ein Wirbel von
Weitere Kostenlose Bücher