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Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Titel: Der Garten der verlorenen Seelen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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sie verschwindet.
    «Was meint sie damit?», fragt Deqo, den Blick zu Boden gerichtet.
    «Nichts, sie ist einfach blöd und außerdem eifersüchtig, weil du hübscher bist als sie.» Nasra umfasst Deqos Gesicht und kneift ihr spielerisch in die Wangen. «Lass dich von ihr nicht verrückt machen. Ich beschütze dich jetzt, und mich hat noch nie jemand untergebuttert.»
    Kurz bevor die Ausgangssperre zuschlägt – Deqo rührt in einem Lammeintopf, den Nasra auf den Herd gestellt hat –, hämmert jemand gegen die Hoftür.
    «Mach auf!», schreit Nasra aus ihrem Zimmer.
    Schwankend steht Karnickel vor der Tür, der alte Säufer aus dem Graben. Ohne Deqo eines Blickes zu würdigen, drängt er sich ins Haus und taumelt direkt auf Chinas Zimmer zu. «Mein Liebling,
habibti
, dein Freund ist hier», schmachtet er und schlägt auf das zersplitterte Holz ein, seine Handfläche ist mattgelb.
    «Wer hat gesagt, dass du hierherkommen sollst?», brüllt China, reißt die Tür auf und versetzt ihm einen Stoß gegen die Schulter.
    «Mein Schatz, du hast zwei Sachen, die mich interessieren – wenn du mir eine davon gibst, bin ich wieder weg.»
    China greift in die Taschen seiner grauen Hose und zupft das leere weiße Futter heraus. «Sehe ich vielleicht wie das Rote Kreuz aus? Ich bediene keine Bettler und lass sie auch nicht ins Haus.»
    «Dann gibt mir wenigstens einen Schluck Whisky.» Er streckt dieHand aus und legt kokett den Kopf schief. «Als ich Geld hatte, war ich ein guter Kunde, das weißt du. Vielleicht bin ich sogar der Vater dieses lieben Jungen.»
    «Träum weiter.» China packt Karnickel unter den Achseln und hebt ihn hoch, sodass seine Zehen nicht mehr den Boden berühren. «Als ob außer Krankheit und Alkohol irgendwas in dir stecken würde. Mit meinem Kind hast du gar nichts zu tun!»
    Lächelnd betritt Nasra den Hof, auch Stalin und Karl Marx reihen sich ins Publikum ein.
    «Verprügel den Dummkopf!», schreit Stalin.
    «Du schuldest mir immer noch hundert Schilling.» Karl Marx beugt sich vor und zieht dem Mann die schwarzen Schuhe von den Füßen. «Die behalte ich, bis ich mein Geld bekomme.»
    Sie sind wie Katzen, die zum Vergnügen nach einer Maus tatzen, denkt Deqo. «Meine Damen, ich bin ein armer Mann, der gibt, wenn es ihm möglich ist. Ihr solltet Erbarmen mit mir haben.»
    «Dies ist kein Ort, an dem das Erbarmen regiert, das solltest du wissen, Karnickel», sagt Nasra und zwinkert Deqo verschwörerisch zu. «Die Welt hat uns auch nie einen Gefallen getan, warum also sollten wir dir helfen?»
    «Ich bin nicht wie die anderen, ich habe euch nie wehgetan. Demütigt einen hilflosen alten Mann nicht!» Er klingt bemitleidenswert, den Tränen nahe.
    Schuldbewusst kichert Deqo; er hat ihr tatsächlich nie wehgetan, aber es ist aufregend, wie er da in der Luft baumelt und von diesen Frauen eine Lektion in Sachen Respekt erteilt bekommt.
    Stalin tritt ihm in den Hintern, und dann fallen alle über ihn her.
    «Schafft den Müll raus!», schreien sie im Chor.
    Während Deqo die Tür aufhält, wird er von den Frauen an Armen und Beinen gepackt; sie tragen ihn nach draußen und schwenken ihn ein paarmal hin und her, ehe sie ihn auf die Straße schleudern.
    «Seid alle verflucht!», schreit er, als er mit einem dumpfen Geräusch im Dreck landet. Deqo macht ihm die Tür vor der Nase zu.
    Die Frauen klopfen einander auf die Schultern und sind fröhlicher,als Deqo sie bislang erlebt hat; es fühlt sich an, als wäre nicht nur Karnickel vertrieben worden, sondern als hätte sich auch eine Spannung oder Wolke entladen. Sie lachen und lachen, bis sie nicht mehr können.
    «Armer Mann!», keucht Karl Marx.
    Deqo lehnt sich an Nasra und schlingt zögernd die Arme um ihre Taille; auch sie strahlt.
    Gerade als sich Deqo daran gewöhnt hat, von dem schweren Regengetrommel auf dem Blechdach in den Schlaf gewiegt zu werden, findet die Regenzeit ein abruptes Ende. Anstelle des Wassers, das vom rostigen Dach tröpfelt, pfeift nun die Zugluft der
Jiilaal-
Winde, die ihr Bestes geben, um in den Bungalow einzudringen. Wenn Deqo sich über die Kälte beklagt, stopft Nasra die Löcher mit Lappen zu und lässt den Ofen abends etwas länger brennen. Der heulende Wind erinnert Deqo an das Elend, das die
jiilaal
, die Trockenzeit, nach Saba’ad brachte: rote, entzündete Augen vom Sand, alte Menschen, die in der Nachtkälte umkamen, Schlägereien zwischen den Flüchtlingen um Trinkwasser. Es war eine Zeit der Duldsamkeit und des

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