Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
endlosen Wartens. Das einzig Gute war der tiefblaue, wolkenlose Himmel. Ihr fällt ein, dass sie mit Anab am vergitterten Fenster hoch auf das Flachdach des Waisenhauses geklettert war und beobachtet hatte, wie die Menschen in Schlaf fielen. Wenn das Mondlicht hell genug war, konnten sie in der Ferne die bleichen Berge sehen und an ihrem Fuß einen Teil des Lagers. Alles makellos und sauber, der Himmel blauschwarz und die Sterne wie tausend freundliche Augen, die über den vergessenen Menschen wachten; wie Gebete stieg der Rauch der Kochfeuer empor. Plötzlich hat sie Sehnsucht nach diesem Anblick, nach jener Zeit in ihrem Leben, als Anab bei ihr und die ihnen vertraute Welt still und friedlich war; selbst wenn sie nach Saba’ad zurückkehren sollte, diese Zeit war vorbei.
Die Abläufe im Haus sind Deqo vertraut geworden, und sie weiß, welcher Kunde zu welcher Frau kommt: Die jüngeren, schick angezogenen Männer gehen zu Nasra, die Ehemänner mittleren Alters, das Gesicht hinter einer Sonnenbrille versteckt, zu Stalin, die Betrunkenen und Gangstertypen zu China, und die einfachen Arbeiter zu Karl Marx.Nasra beklagt sich, dass an den meisten Abenden nur ein, zwei Kunden willens sind, der Ausgangssperre zu trotzen, und dass sie eher Chinas Typ sind als ihrer. Es habe einmal eine Zeit gegeben, da hätten sie hier keine Straßenhändler, Säufer und Verbrecher, sondern Journalisten und Geschäftsleute mit Dollars in den Taschen empfangen.
Die letzte Nacht des Jahres bricht an, und die einzigen Männerstimmen, die im Haus zu hören sind, kommen aus den Radios; selbst für die Säufer ist es zu kalt, zu dunkel und zu stürmisch. Den Abend über herrscht gedrückte Stimmung, Deqo sitzt auf Nasras Bett und sieht zu, wie diese ihr Zimmer umräumt, die Möbel von hier nach da schiebt und lauter Habseligkeiten aussortiert, angeblich weil sie ihr zum Hals heraushängen. Sie lässt den Haufen im Korridor liegen, damit Deqo ihn durchsehen kann, und wirft sich mit dem Gesicht nach unten aufs Bett.
«Was würde ich nicht tun, um von hier wegzukommen!», sagt Nasra und presst sich ein rosa Kissen gegen die Augen.
Deqo streicht ihr über das Haar.
«Wer hätte gedacht, dass mein Leben mal so verlaufen würde? Ich bin klug, ich bin keine Säuferin wie China, keine Analphabetin wie Karl Marx. Aus mir hätte was werden können. Aber wenn man einmal damit anfängt, kommt man da nie wieder raus, kann nie wieder etwas anderes sein. Ich gehe aus dem Haus, und die Leute sehen mich an, als wäre ich ein Gespenst, das am Tag herumwandert.»
«Gehst du deshalb nicht oft nach draußen?»
«Das und weil ich da draußen sowieso nichts verloren habe. Warum erzähle ich dir das überhaupt?» Sie lässt den Kopf auf die Bettdecke sinken und fängt wieder an. «Ich fühle mich, als wäre ich gar kein richtiger Mensch. Ich habe keine Familie, keine Freunde, keinen Mann, keine Kinder. Jeden Tag schlage ich die Augen auf und frage mich, weshalb ich mir überhaupt die Mühe machen und aufstehen oder essen oder noch einen Schilling verdienen soll. Keiner würde mich vermissen, im Gegenteil, meine Mutter wäre froh, wenn sie hören würde, dass ich gestorben bin, sie würde in die Hände klatschen und rufen, dass ihre Schande getilgt worden ist.»
Schluchzend verbirgt Nasra ihr Gesicht, und Deqo setzt sich mit großen,verängstigten Augen kerzengerade hin. «
Ich
würde dich vermissen, Nasra», sagt sie hastig und streichelt ihr über den Rücken.
Nasra gibt keine Antwort, und Deqo begreift, dass sie nicht genügt, bei Weitem nicht.
Der erste Tag des Jahres 1988 ist strahlend und wolkenlos, die Straße mit Blättern und Zweigen bedeckt, die es in der vergangenen Nacht hergeweht hat. Mit der rechten Hand umklammert Deqo hundert Schilling, ein Geschenk von Nasra, um das neue Jahr zu feiern, und vielleicht auch eine Entschuldigung für ihre Tränen. Das kleine Mädchen, das mit ihr im Regen getanzt hat, sitzt mit seiner Mutter auf einer hohen Treppenstufe aus Beton, den Kopf in die Hände gestützt. Grüßend winkt Deqo, aber als das Mädchen die Hand hebt, zerrt ihre Mutter diese nach unten. Die drahtige Frau verengt die Augen. «Geh weiter!», kreischt sie. Mit hocherhobenem Kopf marschiert Deqo weiter, aber ihr Magen dreht sich um, als ihr Nasras Worte wieder einfallen, sie will nicht auch zu einem Tageslichtgespenst werden.
Sie betrachtet ihre frisch lackierten roten Zehennägel und die sauberen, eingecremten Füße und weiß keinen Grund,
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