Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Stelle, an der Metall auf Plastik trifft, befindet sich ein rotbrauner Fleck, der Rost oder getrocknetes Blut sein könnte.
«Komm da raus, du Dieb!», schreit ein Mädchen, drängt sich an ihr vorbei, schnappt sich das Messer und richtet es auf Deqos Gesicht. «Wer hat dir gesagt, dass du so einfach mein Zimmer betreten darfst?»
Entsetzt hebt Deqo die Hände und deutet zum Hof.
«Nasra», stottert sie.
«Nasra! Hast du dieses Straßengör ins Haus geschleppt?», gellt das Mädchen.
Nasra zwängt sich zu ihnen in das winzige Zimmer und schiebt das Messer beiseite. «Stalin, was denkst du dir denn bloß? Ich habe ihr gesagt, sie kann hier arbeiten. Du kannst doch nicht jedem Fremden ein Messer ins Gesicht halten.» Sie seufzt. «Hast du sie denn nicht in der Küche schlafen sehen?»
«Ich war Frühstück kaufen.» Stalin mustert Deqo von oben bis unten. «Hast du sie schon jemandem vorgeführt?»
Nasra funkelt Stalin wütend an, schiebt Deqo aus dem Raum. «Geh zu Karl Marx, die wird dich nicht anraunzen.»
Nasra schließt die Tür und bleibt mit Stalin zurück.
Deqo wirft über die Schulter einen Blick zurück. Immer noch leicht zitternd beschließt sie, zukünftig Stalins Zimmer fernzubleiben und ihr das Putzen selbst zu überlassen. Stalin ist das genaue Gegenteil von Nasra: stämmig, muskulös, strenges Gesicht, das Haar zurückgebunden und pomadisiert – sie sieht aus, als könnte sie jemanden zu Brei schlagen. Was hat sie wohl damit gemeint, mich jemandem vorführen?, überlegt Deqo. Ich bin doch kein wildes Tier, da gibt es nichts zu sehen.
Sie überquert den Hof und klopft bei Karl Marx an, bevor sie hineingeht. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt haben, aber dann erkennt sie Karl Marx, die auf dem Rückenliegt, die Hände flach auf der Brust. Deqo steht an der Tür, ist sich nicht sicher, ob die Gestalt auf dem Bett überhaupt atmet.
«Komm rein, ich bin nicht tot. Jedenfalls noch nicht», sagt Karl Marx, ohne die Augen zu öffnen.
«Ich soll dein Zimmer putzen», Deqo unterdrückt das Niesen, das sie in der Nase kitzelt.
Karl Marx rührt sich nicht, blass und scharf hebt sich ihr Profil von der blauen Wand ab. «Dann mach sauber.» Die Worte scheinen aus den großen Ohren oder den schmalen Nasenlöchern zu kommen, denn ihre Lippen bewegen sich nicht.
Deqo nimmt den Lappen und wischt eine Staubschicht vom Fensterbrett, allerdings schüchtert die Anwesenheit eines anderen Menschen im Zimmer sie ein. Allmählich rührt sich Karl Marx, schwingt die Beine aus dem Bett und gähnt lauthals. Deqo wirft einen raschen Blick auf den nackten, knochendürren Körper der Frau; die hervorstehenden Schlüsselbeine bilden ein Joch um ihren Hals, die mageren Schenkel sind von blutenden Wunden überzogen. Verstohlen mustert Deqo sie, sieht eine Frau, die ins Krankenhaus gehört. Karl Marx greift nach einem Lakenzipfel und tupft sich das Blut von den Beinen, steht bedächtig auf, als wäre sie sich ihres Zustandes nicht bewusst. Als sie ein
diric
vom Boden aufhebt, sind die beiden dreieckigen Knochen ihres Gesäßes zu sehen.
Deqo hat einen Kloß im Hals und summt, um sich abzulenken, leise vor sich hin.
«Gehörst du zu Nasra?»
«Haa
, ja.»
«Bietest du dich an?»
«Was soll ich denn anbieten?»
«Das zwischen deinen Beinen.»
Es dauert, bis Deqo begreift, was zwischen ihren Beinen überhaupt verkauft werden könnte. «Nein! Ich putze und mache Besorgungen», sagt sie schleunigst. Sie stellt sich vor, wie Karl Marx das tut, was Ziegen und Straßenhunde tun, wenn sie einander besteigen, und ist angeekelt. Das also macht eine Hure zur Hure, begreift sie, und ihre Augen werden groß.
Karl Marx lässt sich schwer aufs Bett fallen und betrachtet Deqo unter gesenkten Lidern hervor. «Ich war so alt wie du, als ich angefangen habe.»
Deqo findet es unbegreiflich, dass irgendjemand was von Karl Marx will, sie sieht aus, als hätte sie sich Typhus und alle möglichen Krankheiten eingefangen. In Saba’ad wären die Leute vor ihr davongerannt.
«Sieh mich an», sagt Karl Marx.
Deqo dreht sich um und sieht ihr ins Gesicht.
«Wie alt schätzt du mich?»
Auf ihrem Kopf zeigen sich bereits weiße Haare, unter dem durchsichtigen
diric
hängen die Brüste bis zum Nabel; in Deqos Augen ist sie uralt.
«Los, sag schon.»
«Fünfzig? Fünfundfünfzig?»
Karl Marx lacht und zeigt dabei von
Khat
verfärbte und zerstörte Zähne. «Du kleines Biest! Zwanzig weniger und du
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