Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
barfuß in der Brandung toben, eine gestrenge Matriarchin, die im Studio vor einem Savannenhintergrund finster dreinblickt, ein schlanker Mann mit ungebändigtem Haar, der stolz vor einem weißen Boot steht.
«Wer ist das?» Deqo tippt mit dem Finger auf das Foto.
Nasra wischt den Fettfleck weg, ehe sie antwortet. «Mein Vater.»
«Ist er Fischer?»
«War er.» Schnell blättert sie um und betrachtet die anderen Fotos nur flüchtig, scheint sie gar nicht richtig wahrzunehmen.
«Ich weiß gar nicht, wer mein Vater war oder was er macht», kichert Deqo nervös. Sie will Nasra den Arm um die Schulter legen, besinnt sich aber eines Besseren.
«Du kommst doch aus einem der Lager?»
«Ja, aus Saba’ad.»
«Na, dann war er wahrscheinlich ein armer Nomade und deine Mutter eine langhaarige Sultanstochter aus einem Dorf am Fluss, und sie begegneten einander und brannten verliebt zusammen durch und bekamen dich. Habe ich recht?» Nasra springt vom Bett herunter und stopft das Album in eine Schublade.
Deqo schnurrt beinahe vor Entzücken, Nasras Geschichte erfüllt sie mit Licht und Wärme. «Jajaja!», möchte sie schreien, aber stattdessen schwenkt sie die Arme hin und her.
Die Wahrheit ist sehr viel grausamer. Sie hat keinerlei Ahnung, wo sich der Rest ihrer Familie befindet; es gibt keine Geschichten, die von Cousins weitergetragen werden, keine Dörfer, in die sie zurückkehren, keine Ahnentafel, die sie weitergeben könnte, sollte sie jemals selbst Kinder haben. Sie ist wie ein Schössling, der aus der nackten Erde wächst, während andere Triebe alteingewurzelter Bäumen sind. Ihre minderjährige Mutter habe am Hals ein Muttermal in der Form einer Mondsichel gehabt und auf der ganzen Brust Flecken wie eine alte Frau, hatte Schwester Doreen ihr erzählt. Mehr wusste sie nicht. Kein Gesicht, kein Körper, einige Flecken und eine Halbmondsichel sind die einzigen Erinnerungen an ihre Mutter.
«Wer hat den verdammten Hof unter Wasser gesetzt?», brüllt Stalin von draußen.
«O nein», stößt Deqo leise hervor und rennt zur Wäsche zurück.
Während sich der Hof von blau zu dunkelblau zu schwarz wandelt, pult Deqo Dreck unter ihren Fingernägeln hervor und hört die Knochen des Hauses knacken, als es sich in die Nacht hineinschmiegt. Bald erleuchten Öllampen jede Ecke des Hauses, und sie fällt in einen leichten Schlaf, der die Geräusche um sie herum dämpft, aber nicht ganz verstummen lässt: Schritte, klickende Schlösser, Gelächter, ferne Musik,Gespräche, Bettfedern, Stille. Aus Nasras Zimmer weht Tabakgeruch in die Küche.
Es ist spät, als Deqo ein lautes Klopfen an der Hintertür hört, hartnäckige Wirbel alle zehn Sekunden. Sie taumelt auf die Beine und presst das Ohr gegen die Tür. Dann linst sie durch das Schlüsselloch und sieht Ödland, auf dem Abfall abgeladen und Holzkohle hergestellt wird. Beim Gedanken, diese Dunkelheit hereinzulassen, wird ihr bang.
«Wer ist da?», will sie wissen und hört sich mutiger an, als sie sich fühlt.
«Mach auf! Ich will zu Nasra», antwortet eine tiefe Männerstimme.
«Ich darf niemanden reinlassen.»
Er tritt gegen die Tür. «Entweder du lässt mich so rein oder ich finde einen anderen Weg.»
«Ich darf Sie nicht reinlassen!» Deqo wirft sich mit der Schulter gegen die Tür.
Stille, dann scharren Füße die Mauer hinauf und über das Wellblechdach. Deqo duckt sich, als könnte der Fremde auf sie fallen. Nach ein paar Augenblicken springt ein riesiger Mann mit langem Mantel hinab in den Hof. Im Schatten des tief in die Stirn gezogenen Baretts kann Deqo nur seine Nase und die spöttisch verzogenen Lippen erkennen. Er richtet sich auf und entschwindet in Richtung von Nasras Zimmer, und Deqo hört, genau in dem Moment, in dem er die Tür erreicht, das Klacken von Nasras Riegel; sie versteckt sich im Korridor, als Stalin und China die Köpfe aus ihren Zimmern strecken.
Sie geht in den Hof zurück und hockt sich hin, um durch das Fenster von Nasras Zimmer zu spionieren. Mit gespitzten Ohren und großen Augen versucht sie, so viel wie möglich von dem Drama mitzubekommen, immer weiter schiebt sich ihr Kopf hoch, die Nase drückt gegen das Glas. Der Mann überragt Nasra; er hat weder Hut noch Mantel abgelegt, sondern umkreist sie, die aufrecht dasteht, lediglich mit einem roten, bis zu den Brüsten hochgezogenen Satinunterrock bekleidet, zwischen den Fingern eine brennende Zigarette. Sie reden nicht, berühren sich nicht. Nasra erblickt Deqos Gesicht im
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