Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
weshalb irgendjemand auf sie herabsehen sollte. Gut sieht sie aus, findet Deqo, besser als je zuvor. Ihre Wangen sind voller und die ständigen Hungerkopfschmerzen sind weg, gleichzeitig aber fühlt sie sich schwerer, langsamer und weniger wachsam, da sie jetzt nicht mehr für jeden kleinen Happen rackern muss. Sie kommt sich verkleidet vor; ob sie auf dem Markt wohl jemand in Nasras abgelegten Sachen, dem grünen Rock und dem weißen Hemd, erkennt, oder ob sie für eines der hiesigen Mädchen gehalten wird, mollig und sorglos?
Deqo wendet sich nach links, will ein unbebautes Areal erkunden, das ihr bisher noch nie aufgefallen ist; in einer Sandgrube wächst struppiges Gebüsch, und Jungen kicken einen Lumpenball herum. Manchmal schlossen sich Deqo und Anab den Fußballspielern am breiten, trockenen Flussbett an, das an Saba’ad vorbeiführt; aus unerfindlichen Gründen uferten diese Spiele aus, bis sich vielleicht hundert Teilnehmer in einer kiesigen Arena versammelt hatten, die sich in jedeRichtung anderthalb Kilometer weit erstreckte. Aus Pullovern, die mit Schnürsenkeln zusammengebunden waren, wurden rasch neue Bälle hergestellt, wenn die anderen unter dem Massenansturm von Hosenmätzen und Halbwüchsigen, Jungen und Mädchen zerfallen waren – häufig hatten die Mädchen einfach einen Ball in die Hand genommen und waren damit zum Tor gelaufen, weil ihnen nicht einleuchtete, warum das nicht erlaubt war. An diesen Nachmittagen, wenn die Mädchen ihre
buuls
und Aufgaben im Stich ließen und das Lager in den von den Kindern aufgewirbelten Staub gehüllt war, war Deqo gerannt und gerannt und hatte im Sprung nach der goldenen Sonne gehascht, einer glänzenden Medaille, ganz knapp außerhalb ihrer Reichweite.
Nachdem sie ein paar Minuten zugesehen hat, wie die Jungen lustlos kickten, geht Deqo um die Sandgrube herum und spaziert zu einer Kreuzung. Sie wählt aufs Geratewohl eine der unbefestigten Straßen und schlendert an dem riesigen Elektrizitätswerk vorbei, an der Pepsi-Fabrik, vor der Lastwagen in Reihen geparkt sind. Nach einem weiteren Stück Buschland kommt der Graben, voller Abfall und Alkoholflaschen, eine Seilbrücke führt auf die andere Seite der Stadt hinüber. Beim Blick von der schwankenden Brücke auf den Graben kann Deqo kaum glauben, dass sie hier einmal ihre Nächte verbracht hat – ein wilder, dunkler Dschungel, ein Niemandsland voller Bedrohung und Gefahr. Mittlerweile wimmelt es in ihrer Tonne wahrscheinlich von Schlangen oder Skorpionen. Es ist einer jener Orte, wo menschliche Skelette ungestört und unbeweint in der Erde vermodern können. Deqo ist jetzt nicht mehr das Mädchen, das Unterschlupf in diesem Ödland suchte; sie muss dort einen Panzer abgeworfen haben oder aus einem Kokon geschlüpft sein.
Der Markt ist ihre Rettung gewesen, sein Lärm, die Gerüche, der raue Umgang haben dafür gesorgt, dass sie Mensch geblieben ist, und erleichtert erreicht Deqo den ihr vertrauten Ort, umklammert ihren Schatz noch fester. Noch nie hat sie hundert Schilling besessen, und sie muss gegen das Verlangen ankämpfen, das Geld für schlechte Zeiten aufzubewahren, aber Nasra hat ihr das Versprechen abgenommen, sie müsse sich etwas Schönes davon kaufen. Das Plätzchen, wo sie gestohlenesObst verkauft hat, ist hinter den breiten Rücken einiger Marktfrauen mittleren Alters verborgen. Kinder schwärmen um ihre wie neuen langen Beine herum – bleiche Klebstoffschnüffler, Schuhputzer, Taschendiebe, Koranschüler im langen weißen Gewand und mit Gebetsmütze, Straßenfeger –, es gibt genügend von ihnen, um damit ein ganzes kleines Dorf zu bevölkern, samt Hierarchien, Fehden und Bündnissen, die mit allem, was die Erwachsenenwelt bietet, mithalten können.
Niemand erkennt sie, ihre Verwandlung ist komplett; wer würde glauben, dass dies dieselbe Deqo ist, die in einer rostigen Tonne zu schlafen pflegte? In einem Spiegel, der vor einem Stand mit Kleidern hängt, erhascht sie einen Blick auf sich und sieht ein Mädchen mit ordentlich aufgestecktem Haar und herrisch hochgereckter Nase.
Nichts fesselt ihre Aufmerksamkeit so sehr, dass sie sich von den hundert Schilling getrennt hätte, bis sie an einem Eckstand vorbeikommt, wo Tiere verkauft werden. Der Händler sitzt auf einem Hocker, hält ein weißes Lamm im Arm; seine Haut ist dunkel und narbig, das Haar glatt geölt, und er lächelt wohlwollend, als sie näher kommt. Eine Schildkröte krabbelt behäbig zwischen seinen Füßen herum, mit einem
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