Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
Bein an den Hocker gebunden, verschiedene Vögel krächzen und flattern in überfüllten Käfigen, und im Inneren des Standes sieht sie ein kleines braun geflecktes Kitz auf den Hinterläufen hocken. Still kniet sich Deqo neben das Tier, und das Kitz sieht sie mit feuchten, verängstigten Augen an.
«Wie viel?», fragt sie den Händler.
Er kratzt sich am Kinn. «Gib mir fünfhundert», sagt er dann.
Deqo streichelt dem Tier über den Rücken, es zittert bei jedem schnellen Herzschlag. Es sollte bei seiner Mutter sein. «Ich hab bloß hundert.»
«Ah, dann vergiss es.» Er dreht sich zur Straße und spuckt aus.
«Womit füttert man es?»
«Kuhmilch. Wenn es dir so gefällt, warum bittest du nicht deine Mutter um mehr Geld?»
«Ich hab keine Mutter.» Sie krault das Tier unterm Kinn, woraufhin es mit den Ohren zuckt.
«Dann frag eben deinen Vater. Oder …» Der Mann zieht einen Strohkorb zu seinem Hocker her und hält ihn schräg, damit sie den Inhalt sehen kann. Ein Gewusel gelber Küken fällt übereinander und piepst alarmiert. «Für hundert kannst du eins von denen haben.»
Deqo streichelt den Kopf des Kitzes und begutachtet das Kükenwaisenhaus. Sie hat Mitleid mit der Zerbrechlichkeit der Vögelchen; es wäre ein Leichtes, sie in der Hand zu erdrücken. Sie steckt die Hand in den Korb und streichelt die flaumige Brust eines Kükens, das auf dem Rücken liegt. Deqo selbst hat die ersten zwei Lebensjahre in den überfüllten Gitterbetten verbracht, in denen man die kleinsten Waisen des Lagers sich selbst überließ und wo die Kleinen übereinanderkrabbelten und neugierig Finger in ungeschützte Augen piksten. Irgendwie hat sie sich aus diesem Käfig befreit, sich selbst Laufen und Sprechen beigebracht und gelernt, sich zu versorgen.
«Ich nehm das da. Und wenn ich genug Geld hab, komme ich zurück und hole das Kitz», sagt sie energisch.
Scherzhaft salutiert der Händler und nimmt das Geld. «Ich warte auf dich!»
Langsam geht Deqo zum Bungalow zurück, schmiegt das Gesicht an den kitzelnden Flaum des Kükens; sie hofft, dass es eines Tages zu einem stolzen Huhn mit glänzendem Gefieder heranwachsen wird, zur Matriarchin einer ständig wachsenden Brut.
China steigt über Deqo hinweg und setzt den Kessel auf den Holzkohleofen; sie brummt undeutliche Vorwürfe vor sich hin, die entweder an Deqo oder das auf ihren Rücken gebundene Baby gerichtet sind. Das Gesicht des Jungen wird gegen Chinas Rücken gequetscht; obwohl es unbequem aussieht, wimmert er nicht. Deqo ist halb dankbar, halb neidisch, weil sie nie so getragen wurde. Auf ihrem Schoß zappelt das Hühnchen, trippelt auf ihren Schenkeln auf und ab.
«Ich dachte, du sollst in diesem Haus arbeiten und nicht bloß mit diesem Ding rumsitzen und uns das Essen wegfressen.»
«Ich bin mit Putzen fertig, China. Soll ich sonst noch was für dich tun?», antwortet Deqo ruhig.
«Als Erstes kannst du mir mal den Brocken vom Rücken nehmen.» China knotet das Tuch auf und lässt den Jungen in Deqos Arme plumpsen.
Schlaff hängen Nuhs Arme herunter; er riecht genauso stark nach Alkohol wie seine Mutter und scheint ebenfalls betrunken zu sein, die reglosen Augen sind halb geschlossen. Missmutig sieht Deqo China an. Warum hast du dein Kind behalten dürfen, wenn du dich nicht mal richtig darum kümmerst?, schießt ihr durch den Kopf.
«Deqo!», ruft Nasra. Hinter ihr im Hof steht ein großer Mann mit einem Holzstock. «Du bist ja wieder da. Hast du das gekauft?» Sie zeigt auf das Küken. «Hast du ihm schon einen Namen gegeben?»
Deqo schüttelt den Kopf. «Ich überleg noch.»
«Gehört das Kind dem Mädchen?», fragt der Mann. Er schiebt seine Sonnenbrille hoch und betrachtet Deqo eingehend, flüstert Nasra etwas ins Ohr.
«Natürlich nicht, das ist der Sohn von China.»
Der Mann kommt ein paar Schritte näher und beugt sich über Deqo, beim Lächeln sieht man zwei goldene Eckzähne. «Hübsches Mädchen», sagt er und nimmt ihre Nase zwischen seine tabakfleckigen Finger.
«Deqo, du bist doch völlig gesund?» Nasra zieht den Mann sanft weg.
Schüchtern nickt Deqo.
«Lassen Sie uns in meinem Zimmer weiterreden», sagt Nasra und geht mit dem Besucher weg.
«Oha, Kleine, jetzt geht’s aufs Hackbrett mit dir», kichert China.
«Wie meinst du das?»
«Das wirst du bald herausfinden.» China nimmt ihr Nuh ab und verschwindet mit einer Thermoskanne Tee in ihrem Zimmer.
Deqo schiebt das Küken in die Rocktasche und stellt sich neben Nasras Tür,
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