Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
schnell ab, wie sie zuvor eingetroffen waren, eine einzige riesige Menschenmenge mit juwelenfarbigen Saris, die hinter ihnen herwehten wie Schwanzfedern. Die Männer – Stoffhändler, Souk-
wallahs
und Beamte –, die im Indian-Line-Viertel wohnen bleiben, spielen auf dem nackten, rissigen Erdboden Kricketund sind mit der Rastlosigkeit von Katern hinter den somalischen Mädchen her.
«Für wen machst du das alles? Für einen Händler?», fragt Kawsar, als Nurto über den Betonboden hüpft und dabei schmale, feuchte Fußabdrücke hinterlässt.
«Kann ich mich nicht mal waschen, ohne dass du Theater machst?» Auf Nurtos linker Brust liegt das Haar wie ein feuchtes, sich allmählich aufdrehendes Seil; sie drückt das Ende aus und trocknet sich die Hände an ihrem mit Blättern bedruckten
diric
. Sie wird fülliger, erblüht zur Frau, Hüften, Brüste und Hintern halwa- und dattelgerundet.
Bewunderung und unangebrachter Stolz erfüllen Kawsar beim Anblick ihres Dienstmädchens; ein seltener Luxus, wenn man einem armen Kind den Haushalt überlassen und ihm beim Erblühen zusehen kann. «Gut schaust du aus, mehr wollte ich gar nicht sagen.»
Nurto verzieht das Gesicht; sie ist auf die nächste Verbalattacke gefasst gewesen, hat sich dagegen gestählt und gewappnet, breitbeinig, die Schultern gestrafft. «Findest du?», fragt sie einen Augenblick später. «Wie habe ich mich denn verändert?»
«Du siehst jetzt wie eine
gashaanti
aus, deine Haut glänzt, dein Haar ist länger, du hast jetzt Kurven, nachdem du erst wie ein Baum in der
jiilaal
ausgesehen hast. Du riechst auch besser», lächelt Kawsar.
«Und du glaubst, die ganze Mühe mache ich mir für einen
Singhe-Singhe
-Markthändler? Da habe ich meine Ziele aber höher gesteckt!»
«Oho! Erzähl.»
Nurto lacht. «Dieser Amerikaner will mich fotografieren. Er sagt, die Leute würden dafür bezahlen, dass ich in solche Zeitschriften komme.»
Kawsar zieht die Augenbrauen hoch, denkt an die schlüpfrigen Fotografien, die die Italiener in Mogadischu von somalischen Mädchen gemacht hatten.
«Naayaa
, sei auf der Hut, ich will nicht, dass die Leute sagen, du seiest in meiner Obhut verdorben worden. Sprich dein
ashahaado
und schütze deine Scham.»
Nurto macht ein langes Gesicht, es war ein Fehler gewesen, die Deckung fallen zu lassen. «Darum geht es nicht, er will mir einfach bloß helfen. Er sagt, dass ein anderes somalisches Mädchen in New Yorkund Paris berühmt dafür ist, auf und ab zu gehen und Kleider vorzuführen.»
«New York, so ein Quatsch! Lass dich doch nicht täuschen. Als ich jung war, machten Italiener schmutzige Fotos von naiven Mädchen und steckten sie in ebenso schmutzige Filme.»
«Na und? Ist das etwa schlimmer, als ein ganzes Leben lang Dienstmädchen zu sein und sich von jedem x-Beliebigen sämtliche Schimpfnamen an den Kopf werfen zu lassen, die ihm gerade einfallen? Als ob man sein Eigentum wäre?»
«Ich wurde so erzogen, dass ehrliche Arbeit nie eine Schande ist. Das Einzige, was für ein Mädchen wertvoll ist, sei sie Tochter eines Sultans oder eines Bettlers, ist ihr Ruf. Sei nicht so dumm, den wegzuwerfen.»
«Zum Teufel mit dem Ruf!» Nurto wirft ihr Haarseil über die Schulter, lässt sich auf ihre Matratze fallen und vergräbt die Nase in einer Zeitschrift, auf der ein blondes Mädchen prangt; da sie nicht lesen kann, studiert sie die Fotos.
Das Sonnenlicht bricht durch die bleiernen, grollenden Wolken und schlüpft durch das vergitterte Fenster, wirft ein Muster aus Helligkeit und Schatten auf die Tagesdecke und Kawsars Füße. Die alte Frau wackelt mit den Zehen und kratzt sich mit den krallenlangen Nägeln die Sohlen. Sie hat Nurto gebeten, ihr heute eine ganze Thermoskanne zu füllen; sie ist in der Stimmung, Musik zu hören und süßen Gewürztee mit Kondensmilch zu trinken. Der lastende Fels auf ihrer Brust hat sich etwas gehoben, nun kann sie ohne Furcht tiefer einatmen; sie macht den Hals lang und streckt den Kopf nach links, verharrt kurz und streckt ihn dann nach rechts. Sie kann ihre Finger- und Zehenspitzen wieder spüren, ihre Kopfhaut prickelt, seit zwölf Stunden hat sie keine Schmerztablette mehr genommen, und ihr Körper fühlt sich an wie eine Stadt, die nach einer langen Nacht wieder zum Leben erwacht. Sie schaltet das Radio ein – für den Fall einer Polizeirazzia ist es auf Radio Mogadischu eingestellt –, und der Sender überträgt ein Livekonzert aus Khartum von Waaberi, einer der Regierung
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