Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
lebensverlängerndes Essen, sie möchte nur ihre Seele erhalten, solange diese in ihrem Körper wohnt.
«Ich geh jetzt auf eine Hochzeit, in ein paar Stunden bin ich zurück», sagt Nurto und stellt ein Glas Wasser auf den Nachttisch.
«Eine Hochzeit? Gleich?»
«Ja genau, denk an die Ausgangssperre. Wir müssen um sieben wieder von der Straße weg sein.»
Kawsar verdreht die Augen zum Himmel. «Und wie ich daran denke.»
Nurtos Gesicht ist nicht zu sehen, als sie sich in ein schwarzes Paillettentop und eine smaragdgrüne Hose zwängt, die sich um ihreHüfte bauscht und an den knochigen Fesseln verjüngt. Sie sind
whodead
, auf dem Souk gekauft. Es geht das Gerücht, dass die Leichen von Ausländern ausgezogen und die Kleidungsstücke, in denen sie ihren letzten Atemzug getan haben, auf dem hiesigen Markt verkauft werden.
«Auf Beine wie diese würde ich lieber nicht die Blicke lenken», lacht Kawsar. «Ein Mann will eine Frau mit kräftigen Fesseln, nicht diese dürren
minjayow
.»
«Brauchst du was von draußen?»
«Nein, brich dir bloß nicht die Beine in diesen lächerlichen Schuhen, für einen weiteren Invaliden ist hier kein Platz.» Nurto ist in Schuhe mit Plateauholzsohlen geschlüpft und trampelt zur Tür, bemüht, nicht mit den Armen rudernd um Gleichgewicht zu ringen.
«Nabadgelyo!»
, brüllt sie und knallt die Tür hinter sich zu.
«Dummes Ding.» Kawsar lacht, aber ihr Lächeln verblasst, als sie ihr Spiegelbild erblickt. Es sieht aus, als wäre eine Kokosnuss in lauter Decken gehüllt, ihr Gesicht ist ein blinzelnder, verschwommener Fleck im schmuddeligen Raum, ihr früher dickes schwarzes Haar ist jetzt kurz und fein wie das eines Babys. Nach Farahs Tod war es beinahe vollständig ausgefallen, jetzt ist es weiß und wächst nur an manchen Stellen nach. Sie zieht sich die Decke über den Kopf.
Kawsar öffnet ein Auge. Neben ihr schläft Hogan, mit verklebten Augen, aufgedunsenen Lippen, das feuchte Haar platt gelegen, ein Speichelfaden tropft auf ihre Hand und leises Schnarchen pfeift durch die Lücke zwischen ihren Vorderzähnen. Kawsar wischt die Spucke weg und zieht ihr Kind näher zu sich heran. Das Licht, das durch das Fenster fällt, ist die Haut eines goldenen Apfels. Gleich wird Hodan sich rühren und beim Aufwachen mürrisch den Blick vom Boden zur Zimmerdecke und dann auf das Fenster richten, um sich zurechtzufinden, damit ihre Seele sich wieder in ihrem festen Rahmen einlebt. An manchen Stellen ist der Siesta-Himmel im Fensterrahmen rosa und violett, träge ziehen schmale lange Wolkenstreifen dahin, die tiefen Strahlen der Kupfersonne lassen ihre Ränder metallisch glänzen. Wennman diesen Himmel doch nur in Stücke schneiden und zusammennähen könnte, dann würde sie daraus für Hodan eine Decke machen, für die kalten, dunklen Nächte auf dem Friedhof
.
Als Kawsar aufwacht, ist es im Haus dunkel, und durch die Eisenstäbe vor dem Fenster über ihrem Bett strahlen die Sterne. Ein paar fedrige Wolken treiben über den Himmel, der Nachtwind, kühler als gewöhnlich, blättert spielerisch in den Arzneirezepten auf dem Tisch. Sie zieht sich die Decken bis zum Kinn hoch, schließt die Augen und atmet Jasmin, Geißblatt, Mondwinde und
wahara-waalis
ein, die Wüstenblume, die sie vor langer Zeit im Garten hinter ihrem Bungalow gepflanzt hat. Das ist der einzige Kontakt, den sie mit ihrem geliebten Garten noch hat – die Liebkosung seines Duftes, wenn der Wind richtig steht. Die Granatapfel-, Guaven- und Papayabäume sind Nurtos roher Gnade ausgeliefert; ganz bestimmt kippt sie bloß einen Eimer schmutziges Wasser über die darbenden Wurzeln. Maryam berichtet, dass die Tomaten verwelkt, die grünen Chilis vergilbt, die Okras von Eidechsen gefressen worden sind. Nur die Bäume haben überlebt. Kawsars Geist ist mit diesen Bäumen verbunden; sie spürt, wie sich ihre eigenen Wurzeln zusammenziehen, wenn sie sterben.
Wahrscheinlich ist Nurto von einem indischen Händler verführt worden. Das Mädchen verströmt ein unbekanntes Parfüm mit Moschusnote, und sie verbringt erstaunlich viel Zeit im Bad, Plätschern und Seifengeruch dringen durchs Haus. Die
Singhe-Singhes
sind ein verflucht lüsterner Haufen mit ihren anzüglich zwinkernden, Kajal verschmierten Augen und den groben, von Gelbwurz verfärbten Händen, die auf dem Souk nach Mädchen grabschen. 1960, nach Erlangung der Unabhängigkeit, verschwanden nicht nur die Briten, sondern auch die Ehefrauen der
Singhe-Singhes
, reisten so
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