Der Garten der verlorenen Seelen - Roman
der Regen nur noch ein schwaches, halbherziges Sprühen war, kam die Trennung, das Sortieren von Gliedern, Haaren und Kleidern, als er wieder zum Ehemann und sie zur Ehefrau wurde. Aber jetzt ist von diesen Hunderten Morgen und Nachmittagen einzig die Wärme einer abwesenden Hand auf einem alten, leeren Schoß geblieben.
Es ist Freitag, Putztag. In der ganzen Nachbarschaft, in der ganzen Stadt, im ganzen Land werden Teppiche und Matten ausgeklopft, Fenster geöffnet und Zimmer abgestaubt, Böden aufgewischt und geschrubbt, Bettwäsche wird in großen Zubern gewaschen, ausgewrungen und über Büsche und auf Wäscheleinen gehängt, nur um ein paar Stunden später knochentrocken, sonnenduftend und pollenbedeckt wieder hereingeholtzu werden. An den Freitagnachmittagen kann Nurto tun, was sie will, und Kawsar fürchtet sich vor einem weiteren langen Tag, an dem sie auf die Tür starrt, heimlich hofft und befürchtet, dass sie Besuch bekommt, die Einsamkeit drückt sich mit spitzen Knien in ihre Brust. Ihre Ohren lauschen auf Schritte von der Straße draußen, ihr Puls beschleunigt sich, wenn sie in der Nähe verharren. Einmal stieß Maryam Englishs Ziege mit dem Kopf die Tür auf und erschreckte Kawsar, die glaubte, die Soldaten kämen sie wieder holen. Das riesige Tier mit seinen Hörnern sah sich erstaunt im Raum um, kaute einfältig auf einem Heubüschel herum, die Hufe, die Kastagnetten ähneln, auf den Beton gestemmt. «Geh weg!», hatte Kawsar gerufen und mit den Armen gewedelt, worauf das Tier gehorchte, sich umdrehte und ruhig davonging, als wäre es gleichfalls der Meinung, die Zeit mit einer alten Frau zu verschwenden, sei sinnlos.
Dahabo, Maryam, Fadumo, Raage der Lebensmittelhändler, Zahra, Umar Farey, das sind die Besucher, die gelegentlich vorbeischauen. Sie kennt wahrscheinlich Hunderte von Menschen, aber die besuchen sie nicht; man versteckt sich hinter der Ausrede von der Ausgangssperre, aber eigentlich haben sich ihre Herzen verhärtet, sie bringen es nicht fertig, sich um noch eine Unglückselige mehr zu kümmern, sie sind doch ohnehin schon überlastet. Jetzt sind die Frauen die Familienoberhäupter, auf den Straßen keine Männer, wer nicht im Ausland arbeitet, sitzt im Gefängnis oder ist aufgegriffen und eingezogen worden. Würde Farah noch leben, ginge es ihm wie den anderen – kleinlaut würde er sich in seinem Haus verstecken, vorzeitig vertrocknet wie eine Frau in einem Harem. Nurto hat berichtet, dass die alten
askaris
vertrieben wurden, die sich um fünf Uhr nachmittags um Raages
dukaan
versammelten und ihre West-End-Armbanduhren nach dem Signalton der BBC-Nachrichten stellten; auch die BBC ist aus allen öffentlichen Räumen verbannt worden. Das Regime will nicht nur die Stadt verdunkeln, sondern auch zum Schweigen bringen.
Kawsars Herz schwankt zwischen Schuldzuweisung und Verständnis. Die Zeiten haben sich grundlegend verändert; das Leben war preiswert, einfach und langsam, aber jetzt ist es auf andere Weise billig, ganzbestimmt nicht einfach, und die Stunden der Dunkelheit sind ihnen gestohlen und gefährlich geworden. Die Menschen hasten durch ihren Tag, bemüht, der halbierten Zeit ein erfülltes Leben zu entreißen. Die Läden sind leer gefegt, denn Reis und Mehl, die subventioniert werden, sind verschwunden, damit die Regierung weitere ausländische Kredite aufnehmen kann; statt der einheimischen Pflanzen Mais und Sorghum werden Säcke mit den Spenden der USAID aus den Flüchtlingslagern geschmuggelt und auf dem Markt zu abstrusen Preisen angeboten.
Nurto drückt Kawsar eine angeschlagene Emailschüssel in die Hand. Darin befindet sich ihr Essen: gehackte Tomaten, Zwiebeln, Koriander, Chilis, in Zitronensaft ertränkt, sowie der gekochte Reis, auf den das Mädchen besteht. «Ich will von niemandem hören, dass ich dich verhungern lasse», sagt sie mit anklagend hochgezogener Augenbraue.
Kawsar will den Reis nicht, er verwässert die intensiven, scharfen Aromen, die ihre Erinnerung nähren. Chilis hatte sie zum ersten Mal in einem Restaurant in Mogadischu gegessen, in das Farah sie geführt hat. In ihrem neuen Heim in Salahley hatte sie einen Zitronenbaum gepflanzt und jedes seiner Gerichte mit selbst gezogenem Koriander gewürzt, den er so mochte. Sie sehnt sich nach herben Aromen, die ihr die Gefühle entziehen; sogar in ihrem Tee ist zu viel Ingwer, Zimt und Kardamom – genau wie in dem Gebräu, das sie sich während des Stillens zusammenrührte. Sie möchte kein
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