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Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Der Garten der verlorenen Seelen - Roman

Titel: Der Garten der verlorenen Seelen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Blick.
    «Kann ich nicht bei dir sein, Dahabo?»
    «Du bist bei mir, aber was soll ich machen?»
    «Bleib da. Lass dich von niemandem vertreiben.»
    Dahabo atmet geräuschvoll aus und versinkt noch ein bisschen tiefer in der Matratze. «Erinnerst du dich an Asiya vom College?»
    «Was ist mit ihr?» Kawsar erinnert sich an das Mädchen, das sie im Unterricht terrorisiert hat, schlechte Zähne, schlechtes Haar, schlechte Kleider, das sich zwischen sie hatte drängen wollen.
    «Kein einziges ihrer Kinder ist ihr geblieben, entweder tot, vermisst, im Gefängnis oder im NFM. Bald wird es uns allen so gehen.»
    «Dahabo, mir geht es jetzt schon so. Verlang nicht von mir, dass ich Mitleid mit ihr haben soll.»
    «Ich habe Angst. Ich habe Angst, morgens aufzuwachen, darüber nachzudenken, was nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr sein wird. Ich bin mit den Nerven am Ende, ich kann nicht mehr.» Dahabo schlägt sich mit der flachen Hand aufs Herz.
    «Ich werde dich auffangen, komm, zieh zu mir. Ich sage Nurto, dass sie gehen kann.»
    «Meine Kinder», sagt Dahabo mit fester Stimme, ehe sie sich die Schuhe anzieht, «ich kann mich nicht von ihnen trennen.»
    Lange und unnachgiebig starren sie einander an, bis Dahabo schweigend den Bungalow verlässt.
    «Dumme, dumme alte Frau.» Bei jedem Wort schlägt sich Kawsar mit der Faust an die Stirn. Sie erkennt sich nicht wieder: eine alte Hexe, die sich nicht eingestehen kann, dass ihre Zeit vorbei ist, dass Kinder und Enkel Vorrang haben müssen. Was hatte sie sich bloß dabei gedacht? Zu verlangen, dass Dahabo zurückbleibt, bei ihr, zwei alte Weiber, die sich gegenseitig die grauen Haare zählen, ist das etwa ihr Wunsch? Das ist doch einfach nur schamlos und unnatürlich. Wird sie als Nächstes, wenn hinter ihrem Rücken gelacht wird, Verwünschungen ausstoßen? Anderen den bösen Blick zuwerfen? Jenen, die ihr etwas abschlagen oder Familien haben, Unglück wünschen? So werden alte Weiber zu Hexen – ein, zwei tragische Vorfälle und das grüne Gift fließt nur so aus ihnen heraus.
    Einmal in der Stunde holt Kawsar Atem wie ein Reptil, die ferne Sonne brennt ihr auf den Kopf, ihre gelben Augen rollen in den Höhlen, kaltes braunes Blut gerinnt in ihren trockenen Aderfurchen. Sie hat den Überblick verloren, wie viele Tabletten sie sich in den Rachen gestopft hat, genügend jedenfalls, damit der Schmerz gedämpft ist, ihrer Sehkraft das grelle Technicolor genommen wird, bis das Haus durch die dünnen Pupillenschlitze unheimlich und einfarbig wirkt. Sie presst die Hände fest auf die Lider, und ihr dumpfes Leben löst sich in bernsteinfarbene Sternschnuppen und explodierende Galaxien auf. Das hat sie als kleines Mädchen gelernt, die tote Zeit zu vertrödeln, indem sie durch die stille, fast schwarze Welt hinter ihren Augen reiste. Als Seele ist Kawsar nicht sehr gealtert, sie denkt immer noch zu viel nach, verliert sich in Träumen und Albträumen, ihr Körper verbirgt – nein, hält gefangen –, was echt und ewig an ihr ist, jenen winzigen Nadelstich unsichtbaren Lichts in diesem ihrem dunklen Leichentuch. Sie ist dazu verdammt, um sich zu schlagen, gegen ihre Haut zu flattern, verzweifelt um Entlassung in die Welt bemüht, hektisch wie ein Glühwürmchen, das ein Kind eingefangen und in ein Glas gesperrt hat.
    Erlösung war alles, was sie je gewollt hatte. Einmal glaubte Kawsar,sie hätte sie gefunden. Auf dem niedrigen Ast eines unbekannten Baums am Juba sitzend – Krokodilaugen spähten über das brackige Wasser zu ihr hoch, sechs Meter hohe Palmen wimmelten von keckernden, schwarzschwänzigen Affen, flussabwärts gähnten Nilpferde, und über ihr schlüpften Tausende Schmetterlinge aus ihrem Kokon –, konnte Kawsar spüren, wie Licht durch sie strömte. Sie war offen, ohne Haut, geboren, um diesen einen unvergänglichen Augenblick zu erleben. Farah hatte im Auto nach dem Fotoapparat gekramt, versucht, den Namen der Schmetterlingsart zu bestimmen, ihr Vorkommen in diesem bestimmten Baum zu erklären, aber sie hatte ihm den Mund zugehalten, er solle einfach nur sehen, fühlen; sie wollte, dass sie beide so stumm und ekstatisch waren wie diese neugeborenen Schmetterlinge.
    Kawsars verklebte Lider öffnen sich, und Licht dringt durch ihre kurzen, dichten Wimpern. Es könnte Tagesanbruch oder vier Uhr nachmittags sein, ankerlos auf den Wellen der Zeit treibend, macht sie einfach die Augen auf und akzeptiert, was man ihr sagt.
    Nurto beugt sich übers Bett. «Dahabo

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