Der Gast des Kalifen
eines Krieges stand.
Ganz seiner Trauer hingegeben schien Thoros weder einen Gedanken an die Seldschuken zu verschwenden, die in den Bergen lauerten, noch an den bevorstehenden Angriff Bohemunds und seiner Ritter. Der Tod des geliebten Fürsten Leo ließ alles andere in Vergessenheit geraten. Jedenfalls vermochte ich nichts zu erkennen, was aufKriegsvorbereitungen hingedeutet hätte - abgesehen davon, dass man die Wachen auf den Mauern verstärkt hatte.
Das verwunderte und beunruhigte mich sehr. Wofür hatten wir Leib und Leben riskiert? Für eine Warnung, die ohnehin niemand ernst nahm? Falls die Herrscher von Armenien sich nicht um das Wohl ihrer Stadt und ihres Volkes kümmerten, warum sollten wir es dann tun?
Verstört machte ich mich auf den Weg zurück zum Palast. Ich war fest entschlossen, nicht länger zu warten; wir würden sofort aufbrechen. Ich erreichte den Vorplatz des Palastes gerade rechtzeitig, um die Ankunft eines beachtlichen Kontingents Seldschuken zu beobachten. Mit großem Zeremoniell wurden die Türken zum Eingang der Großen Halle geführt, in der man eilig Vorbereitungen getroffen hatte, Trauergäste zu empfangen. Fürst Leos Totenfeier sollte bei Sonnenuntergang beginnen, und die verschiedenen Gottesdienste und Rituale würden die ganze Nacht hindurch dauern mit der eigentlichen Beisetzung am nächsten Morgen als Höhepunkt.
Ich stand im Schatten und beobachtete, wie die Botschafter der Seldschuken von einer Abordnung armenischer Edelleute empfangen wurden, die die Gäste sofort in die Halle führten, wo Thoros, seine Mutter und die anderen Mitglieder der königlichen Familie Hofhielten. Die ausgesprochene Höflichkeit, mit der die Muselmanen empfangen wurden, erstaunte mich. Offenbar war mir das auch anzusehen, denn Nurmal, der gerade die frische Luft im Hof genoss, trat aufmich zu, sah mich an und fragte: »Was denn? Habt Ihr noch nie einen Seldschuken gesehen?«
»Noch nie«, antwortete ich. »Um die Wahrheit zu sagen, weiß ich nicht, was ich erstaunlicher finden soll: dass sie den verstorbenen Fürsten aufdiese Weise ehren oder dass man einem eingeschworenen Feind so mir nichts, dir nichts, Einlass in die Stadt gewährt, um der trauernden Familie seine Aufwartung zu machen.«
Nurmal lachte leise. »Ich weiß nicht, wie es sich in Eurem Land verhält, mein Freund, aber hier meißelt man Feindschaft nicht in Stein. Die Feindseligkeiten in diesem Land sind, sagen wir, fließender - wie Flüsse in der Wüste, die ständig ihren Lauf ändern. Der Feind von heute kann der Freund von morgen sein, den man um Hilfe bittet. Das dürft Ihr nie vergessen.«
Er sprach eine einfache Wahrheit des Ostens aus, doch eine, die ich bis heute nicht ganz verstehe. Aber wie auch immer: Die Worte jagten mir einen Schauder über den Rücken. Ich dachte: Wenn Feindschaft etwas so Vorübergehendes ist, dann gilt für Treue vermutlich das Gleiche.
»Erst gestern bereitete sich die Stadt auf einen Angriff eben dieser Seldschuken vor«, bemerkte ich.
»Das stimmt«, bestätigte mir Nurmal fröhlich. »Aber das war gestern. Die Dinge haben sich geändert. Würde sich nichts verändern, gäbe es auch keine Hoffnung.«
Mit Nurmals Worten im Kopfeilte ich davon, um Jordanus und Sydoni zu suchen, die ich beide seit dem Fest nicht mehr gesehen hatte. Ich ging in den kleinen Speiseraum, wo Thoros uns Wein serviert hatte, und dort fand ich Roupen mit seinem Bruder Konstantin.
Sie sprachen so ernst miteinander, dass ich es für besser hielt, mich nicht einzumischen. Aber ich konnte dennoch vernehmen: ».eine äußerst gefährliche Angelegenheit«, sagte Konstantin gerade. »Selbst Thoros muss das doch sehen. Falls nicht, dann ist er nicht dafür geeignet, die Nachfolge unseres Vaters anzutreten. Ich schwöre dir.«
In diesem Augenblick sah mich Roupen, und die beiden Brüder hörten sofort auf zu reden - mir schien es beinahe so, als würden sie sich schuldig fühlen. »Mein Freund«, rief Roupen, »du musst uns verzeihen, dass wir euch so vernachlässigt haben. Die Pflichten der königlichen Familie wiegen in solchen Zeiten besonders schwer.«
»Das verstehe ich voll und ganz«, erwiderte ich und versicherte ihnen, dass sie sich meinetwegen keine Mühe machen müssten. Die beiden Brüder zögerten. Offensichtlich waren sie begierig darauf, ihr Gespräch fortzuführen; also sagte ich: »Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen wollt. Ich suche nach Jordanus.«
»Wir haben ihn nicht gesehen«, erklärte
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