Der Gast des Kalifen
immer wieder Brot. Ich achtete nicht darauf, wer oder was dafür verantwortlich war, sondern widmete mich voll und ganz dem Essen, das ich nur als hervorragend bezeichnen kann.
Tatsächlich war ich sogar so sehr damit beschäftigt, dass ich zunächst noch nicht einmal das Auftauchen des schwarz gewandeten Mannes hinter Thoros Schulter bemerkte. Nur langsam wurde mir bewusst, dass er mit nüchterner, ernster Stimme sprach, die in krassem Gegensatz zu dem rotgesichtigen, lachenden Mann stand, der vor ihm saß. Dunkel und drohend ragte er über Thoros auf, und jedes seiner Worte war ein düsterer Hauch.
Ich beobachtete, wie nach und nach aller Frohsinn von Herrn Tho-ros wich, und sein Gesicht nahm einen elenden und betrübten Ausdruck an, sodass bei seinem Anblick jedem das Lachen in der Kehle stecken bleiben musste. Einer nach dem anderen bemerkten die Gäste an unserem Tisch, dass die Laune ihres Herrn sich drastisch verändert hatte, und einer nach dem anderen fielen sie in Schweigen.
»Was ist mit dir los?«, erkundigte sich Konstantin. Seine Stimme klang in der plötzlichen Stille ungewöhnlich laut.
Thoros blickte zu seinem Bruder; dann wanderte der Blick zur Mutter, die neben Konstantin saß. Der stämmige Fürstensohn legte die Hände auf den Tisch und wuchtete sich - so schien es mir - unter großen Mühen in die Höhe. Dort stand er dann, ragte über alle anderen auf und verkündete mit gequälter Stimme: »Patriarch Ba-ramistos hat mich gerade davon in Kenntnis gesetzt, dass mein Vater, Fürst Leo, gestorben ist.«
er Tod von Fürst Leo brachte es mit sich, dass sämtliche Mitglieder der königlichen Familie eine Vielzahl langwieriger Rituale durchführen oder über sich ergehen lassen mussten. Die fremden Besucher waren rasch vergessen. Padraig und ich, wir sorgten gerne für uns selbst, um unseren Gastgebern in ihrer Trauer nicht zur Last zu fallen. Aber so begierig ich auch darauf war, die Stadt zu verlassen und meine Reise so rasch wie möglich fortzusetzen, so wollte ich aus Rücksicht auf Roupens Gefühle mich doch nicht
wie ein Dieb in der Nacht einfach davonstehlen. Uns blieb also nichts zu tun, und so nahmen wir die Gelegenheit wahr, durch die Straßen der Stadt zu wandern und zu sehen, wie die Bevölkerung den Tod ihres Herrschers aufnahm.
Was ich sah, war eine Stadt in tiefer Trauer ob des Verlustes ihres viel geliebten Fürsten. Offenbar hatte Leo sein Volk über viele Jahre hinweg weise und klug geführt, und die Armenier waren ehrlich betrübt über seinen Tod. Überall gingen Männer und Frauen mit traurigen Gesichtern ihrer Arbeit nach und sprachen nur leise und bedächtig miteinander. Dutzende kleiner Schreine tauchten in den Straßen auf - ein Bild des Fürsten hier, eine Schnitzerei dort oder vielleicht auch eine Münze mit dem Konterfei des Herrschers -, und jeder einzelne von ihnen war mit grünen Zweigen und einer Kerze verziert. Wann immer jemand an einem dieser Schreine vorüberkam, malte er sich mit dem Finger das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn.
Viele der älteren Männer und Frauen hatten sich Asche ins Haar und auf die Kleider geschmiert; einige hatten sich sogar in Sackleinen gehüllt. Jeder gedachte des Todes des Fürsten aufangemessene Weise, und selbst die Jüngeren waren sichtlich betrübt.
Wenn je eine Stadt getrauert hat, dann Anavarza.
Der Fürst selbst lag in einem vergoldeten Sarg in der Kirche der Heiligen Georg und Nikolaus, der Hauptkirche der Stadt, die als Kathedrale des armenischen Ritus diente. Es war ein großes, doch wenig beeindruckendes Gebäude aus rotem Stein. Für eine solch große Kirche war sie ausgesprochen schlicht; nirgends waren überflüssige Verzierungen zu sehen - in dieser Hinsicht ähnelte sie sehr den Gotteshäusern der Cele De.
Den ganzen Morgen über wanderten Padraig und ich durch die Stadt und staunten über die langen Reihen der Trauernden, die über die Plätze und durch die Straßen in Richtung der Kirche zogen, wo man den toten Fürsten aufgebahrt hatte. Dann und wann warf einer der Trauernden die Hände in die Höhe und stieß einen von Herzen kommenden, gequälten Schrei aus. Ansonsten war die Menge
ruhig und verhielt sich ausgesprochen ehrerbietig.
Als Mönch war Padraig fasziniert davon, zu sehen, wie die Armenier ihren Glauben ausübten, und das nicht enden wollende Ritual zog ihn mehr und mehr in seinen Bann. Ich jedoch empfand die Trauer und all die religiösen Zeremonien für ein Volk unangebracht, das am Rande
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