Der Gast des Kalifen
schloss die Augen. Dann senkte er den Blick zu Boden und schien zu beten. Murdo sah den Stab weiterhin ehrfürchtig an.
»Was ist das?«, fragte ich schließlich.
Mein Vater blickte zu Emlyn. Der Abt streckte den Arm aus, hielt die Hand über das Ding und sagte: »Seht! Die Eiserne Lanze.«
Ich betrachtete das Ding erneut. Es war weniger als eine Spanne lang und in der Mitte leicht verbogen; an einem Ende besaß es einen Stumpf, der Überrest einer Klinge, und am anderen ein kleines Loch. Konnte dieses alte Eisen, das ich für ein zerbrochenes Küchengerät oder Werkzeug gehalten hatte - ein Bratspieß vielleicht -, konnte dieses Ding wirklich der Speer sein, der die Seite unseres Erlösers durchbohrt hat?
»Wenn das so ist«, erwiderte ich, »dann frage ich mich, warum in eben diesem Augenblick nicht der Kaiser höchstpersönlich mit seinem Heer vor unseren Mauern liegt und warum der Papst in Rom nicht demütig zu uns pilgert.«
»Hüte deine Zunge, Junge«, warnte mich Murdo. »Das grenzt schon an Blasphemie. Ich will so etwas aus deinem Mund nie wieder hören.«
Emlyn hob beschwichtigend die Hand und sagte: »Du hast versprochen, ihnen alles zu erzählen.« Und an mich gewandt fuhr er fort: »Eine einfache Erklärung wird deine Bedenken schon bald zerstreuen, Duncan. Der Grund, warum man uns mit diesem unglaublichen Schatz in Frieden lässt, ist, dass weder der Papst noch der Kaiser oder sonst jemand in der gesamten Christenheit weiß, dass die Heilige Lanze hier bei uns ist. Die ganze Welt glaubt, die heilige Reliquie ruhe in den Schatzkammern Konstantinopels.«
»Das hat auch Torf-Einar geglaubt«, bestätigte ich. »Er erzählte mir, dass er dabei gewesen sei, als Fürst Bohemund die Lanze dem kaiserlichen Gesandten übergeben hat. Er hat es mit eigenen Augen gesehen.«
»An jenem Tag waren viele Leute dort«, versicherte mir der Abt. »Ich selbst war auch unter ihnen. Oh, ja. Ich stand am Kai von Jaffa, als Bohemund erschien. Und auch ich sah, wie er die Heilige Lanze dem Gesandten des Kaisers mit Namen Dalassenos übergab.«
Murdo gestattete sich ein schwaches, zufriedenes Lächeln. »Die Menschen sehen nicht immer, was sie zu sehen glauben«, erklärte er, griff nach dem Bierkrug, goss sich einen Becher ein und leerte ihn. Dann erzählte er, was wirklich geschehen war. In jener Nacht enthüllte er uns sein lange gewahrtes Geheimnis - so wie er es auch dir enthüllen wird, meine liebe Cait, wenn du älter bist.
»Warum hast du bis jetzt nie darüber gesprochen?«, fragte ich, nachdem er geendet hatte.
»Hättest du auch nur die Hälfte von dem gesehen, was ich in Jerusalem gesehen habe«, antwortete Murdo, »würdest du mich jetzt nicht fragen.«
»Es war schrecklich!«, rief Abt Emlyn. »Wie Wölfe unter Lämmern labten sie sich am Fleisch der Unschuldigen. Ihre Gier kannte keine Grenzen, und was sie nicht fortschleppen konnten, zerstörten sie.« Der gute Abt zitterte fast vor Abscheu. Er senkte den Kopf und schloss mit trauriger Stimme: »Sie brachen ihre Eide und brachten Schande über sich im Angesicht Gottes und der Menschen. Sie hatten die Gelegenheit, der Welt die Güte wahrer Christen zu zeigen. Stattdessen jedoch benahmen sich die, die sich für die besten aller Menschen hielten, am schlimmsten von allen.«
Und nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Das macht die Arbeit der Cele De nur umso wertvoller und wichtiger.«
»Vielleicht«, bemerkte Eirik, »ist das auch der Grund, warum der Weiße Priester diesen Ort zu seinem Heim machen will.«
»Ohne Zweifel«, sinnierte Murdo. »Ohne Zweifel hast du Recht damit.«
Ehrfürchtig legte er die Hand auf die Heilige Lanze; dann hob er sie in die Höhe und reichte sie mir. Meine Finger schlossen sich um das alte Eisen; es war kalt, wie zu erwarten war, und ein wenig schwerer, als es aussah. Abgesehen davon hatte die Lanze jedoch nichts Bemerkenswertes an sich. Ich reichte die alte Waffe an Eirik weiter, der den Kopf senkte, als er sie empfing, und ein kurzes Gebet sprach. Nachdem er das Gebet beendet hatte, banden wir die heilige Reliquie wieder in ihre Leinen- und Lederhülle und legten sie in das Versteck unter dem Boden zurück.
In jener Nacht beschäftigte mich die seltsame Geschichte, die ich gehört hatte, so sehr, dass ich nicht einschlafen konnte. Ich hatte mein ganzes Leben in diesem Haus verbracht, und nicht ein einziges Mal hatte ich auch nur vermutet, dass es in seinen Mauern einen der heiligsten Gegenstände beherbergte, den
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