Der Gast des Kalifen
die Welt hinausblickte, durch die ihr Sohn dereinst gegeißelt und gekreuzigt werden sollte. Doch abgesehen vom fast düsteren Gesichtsausdruck der Mutter, entdeckte ich noch immer nichts Bemerkenswertes. »Verbirgt sich hier irgendein Mysterium, das ich vielleicht erkennen sollte?«, erkundigte ich mich.
»Sie sind schwarz«, wiederholte Padraig.
»Ja, das haben wir schon festgestellt. Sie sind schwarz.«
»Aber nicht weil das Holz schwarz ist; das ist es nicht. Sie sind schwarz angemalt.«
Ich sah noch einmal hin und erkannte schließlich, dass mein Freund Recht hatte. An der Basis waren einige Kratzer in der schwarzen Oberfläche zu sehen, unter denen das helle Holz zum Vorschein kam. »Wie seltsam«, bemerkte ich und berührte das farbige Holz mit dem Finger. »Warum sollte irgendjemand sie schwarz malen? Hat der Schnitzer etwa geglaubt, Christi Mutter sei Äthiopierin gewesen?«
»Man nennt sie die Schwarze Madonna«, verkündete eine Stimme von der Tür her. Roupen hatte seine Entscheidung noch einmal überdacht und sich uns doch noch angeschlossen. Er trat zum Altar, deutete auf die Figur der Mutter und sagte: »Das ist Maria, aber nicht die Mutter Jesu.«
»Wer ist sie dann?«, fragte ich.
»Maria Magdalena.«
»Aber das ist ja lächerlich. Warum sollte Maria Magdalena den kleinen Christus auf dem Schoß halten? Das ergibt keinen Sinn.«
»In der Tat.« Padraig lächelte listig. »Es sei denn, es ist nicht der junge Christus, den sie da in den Armen hält.«
Ich wartete darauf, dass einer von ihnen mir erklärte, wen das Kind denn nun darstellen sollte. »Nun, bin ich etwa der Einzige im ganzen Frankenland, der nicht weiß, wer dieses Kind ist?«
»Es ist Jesus' Sohn«, erklärte Roupen.
Seine Antwort erstaunte mich derart, dass es einige Augenblicke dauerte, bis ich begriff, was diese Enthüllung wirklich bedeutete. »Christi Sohn?«, rief ich und starrte die winzige Figur an. »Aber das ist ja entsetzlich.!«
Padraig legte mir den Finger auf die Lippen, um mich zum Schweigen zu bringen, und nickte. »Es gibt jene, die glauben, dass Jesus und Maria Mann und Weib waren. Immerhin spricht die Schrift oft vom Jünger, den Christus geliebt hat. Die meisten Gelehrten nehmen an, dies sei der Apostel Johannes gewesen, doch es gibt keinen Grund, warum nicht auch jemand anders damit gemeint gewesen sein könnte.«
»Außerdem«, fügte Roupen hinzu, »ist allgemein bekannt, dass viele Frauen Jesus folgten und ihn vor allem zu Beginn seines Wirkens tatkräftig unterstützten. Auch das belegt die Heilige Schrift.«
»Aber das hier«, protestierte ich. »Christi Sohn! Denkt doch nur einmal darüber nach, was ihr da sagt.«
»Was das betrifft«, erwiderte der Mönch in nach wie vor gleichmütigem Tonfall, »dürfte so ziemlich jeder wissen, dass jüdische Rabbis zumeist verheiratet sind. Ist jedoch einmal einer unvermählt, ist das eher bemerkenswert als andersherum. Wenn, wie die Kirche behauptet, die seinen Namen trägt, unser Herr und Erlöser so menschlich war wie wir alle, warum sollte ihm dann eine Ehe verwehrt geblieben sein? Immerhin ist die Vereinigung von Mann und Weib ein wesentlicher Bestandteil von Gottes Vorstellung, wie eine menschliche Familie auszusehen hat. Warum sollte der Gründer unseres Glaubens nicht denselben Dingen ausgesetzt gewesen sein wie die, die
ihm nachfolgten?«
»Maria Magdalena war eine Hure und eine Besessene«, erklärte ich. »Wollt ihr mir etwa weismachen, dass unser geliebter Herr sich mit einer vom Teufel besessenen Hure vereinigt hat?«
»Wieder gehst du nur vom Hörensagen und Mutmaßungen aus. In der Heiligen Schrift steht nirgends geschrieben, dass sie eine Hure war, sondern nur, dass Christus ihr die Dämonen ausgetrieben und sie so geheilt hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Hurenlegende erst später entstanden, als es für den Papst, hm, sagen wir unangenehm wurde, einer Frau eine mächtige und einflussreiche Position zuzuerkennen.« Er deutete auf die Skulptur und fuhr fort: »Doch wie auch immer - auf jeden Fall glauben die Anhänger dieses Kultes, dass Jesus und Maria ein gemeinsames Kind hatten. Nach der Kreuzigung begann man, die Anhänger des neuen Glaubens zu verfolgen, und die Heilige Familie ergriff die Flucht. Zuerst floh sie nach Damaskus und dann nach Rom. Schließlich haben sie sich dann hier niedergelassen.«
»In Marseille?«, fragte ich ungläubig. »Das Ganze wird ja mit jedem Wort fantastischer.«
»In der Tat«, stimmte mir
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