Der Gast: Roman
kann jegliche Privatsphäre vergessen.«
»Ich fand es großartig.«
Sie verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. »Es ist großartig, wenn man der Gast ist. Aber, mein Gott, es ist so ein Eingriff in die Leute, bei denen man zu Besuch ist.«
»Merken sie nicht, dass es passiert?«, fragte Neal.
»Sie haben keine Ahnung. Deshalb schadet es gewissermaßen auch niemandem. Sie wissen ja nicht, dass jeder Winkel von ihnen von einem geheimen Eindringling erforscht wird. Verdammt, ich war mir auch nicht sicher. Ich habe nur vermutet, dass du in mir warst.«
»Ich war in dir.«
»Tja, dachte ich’s mir doch. Ich meine, das ist ja der Sinn der Sache.«
»Ich dachte, ich träume. Zuerst jedenfalls.«
»Du hast nicht geträumt.«
»Ich war zu Besuch.«
»Genau. Wie ein blinder Passagier. Dieses Mal war es nur ein bisschen anders als sonst, weil wir uns kennen. Normalerweise reist man bei Fremden mit. Ich meine, da erlebt man die richtigen Abenteuer. Man weiß wenig oder nichts über sie. Man springt einfach an Bord, fährt eine Weile mit und sieht, wohin sie einen bringen. Wenn man genug hat – oder die Sache haarig wird –, springt man ab.«
»Klingt einfach«, sagte Neal und leerte sein Glas.
»Es ist einfach. Aber es kann auch fies werden. Mein Gott, ich habe einige unglaubliche Sachen mitgemacht.«
»Unglaublich schöne oder unglaublich schlimme?«
»Beides. Du würdest es nicht glauben. Warte einfach ab und sieh selber. Ich hole mir noch einen Drink. Willst du auch noch einen?«
»Ich mache sie«, bot er an und stand schnell auf.
Elise lächelte ihn über die Schulter an, während sie zur Bar ging. »Schon okay. Ich kann sehr gut …«
»Vielleicht solltest du dich hinsetzen und ein bisschen ausruhen. Ich meine, ich weiß, dass du starke Schmerzen hast.«
Ihr Gesicht lief rot an. »Ich schätze, du weißt alles. Aber so schlimm ist es nicht. Gib mir dein Glas. Ich erledige das.«
Er überließ ihr sein Glas.
Elise trat hinter die Theke. »Nimm dir einen Hocker«, sagte sie.
Er kletterte auf einen der Barhocker, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tresen. Und zuckte zurück.
»Ich würde sagen, wir haben beide ziemliche Schmerzen.«
»Im Vergleich zu deinen sind meine nicht der Rede wert«, sagte Neal.
»Du musst es wissen. Aber vergiss nicht, dass Frauen härter sind als Männer.«
»Ist das so?«
»Ja. Was den Schmerz angeht. Glaub mir, ich weiß es.« Sie begann, die Drinks zu mixen. »Ich weiß verdammt noch mal fast alles, was man über Leute wissen kann. Wenn man oft genug mit dem Armband reist, findet man mehr heraus, als man wissen will. Aber es ist jedes Mal faszinierend. Du bist Schriftsteller, deshalb ist es für dich ein Geschenk des Himmels. Du wirst so vielen seltsamen Charakteren und verrückten Geschichten begegnen, dass du gar nicht mehr weißt, was du damit anstellen sollst. Dein größtes Problem wird sein, dich von deinen Reisen loszureißen … Zeit zu finden, um zu schreiben. Oder besser gesagt, überhaupt für irgendetwas anderes Zeit zu finden. Das ist auch Warnung Nummer eins: Lass nicht zu, dass es dein Leben bestimmt. Wenn du nicht richtig vorsichtig bist, wirst du süchtig.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
»Es wird passieren. Bekämpf es einfach wie jede andere Sucht. Durch Abstinenz. Oder zumindest, indem du dich einschränkst. Es soll ein Hobby sein, keine Obsession.«
»Normalerweise habe ich mich ziemlich gut unter Kontrolle.«
»Hoffentlich.« Sie presste Zitronensaft in die vollen Gläser. Dann rührte sie mit einem roten Rührstäbchen um und schob einen Drink über die Theke zu Neal.
Sie hoben ihre Gläser.
»Runter damit«, sagte Elise.
»Prost«, sagte Neal.
Sie tranken. Dieser schmeckte stärker als der, den Neal gemixt hatte. Es gefiel ihm.
»Und jetzt«, sagte Elise, »kommen wir zu Warnung Nummer zwei: Besuche niemanden, den du kennst. Da kannst du mich beim Wort nehmen. Ich habe es auf die harte Tour gelernt. Selbst bei Menschen, die dich lieben, wirst du erschrocken sein über das, was in ihren Köpfen vorgeht. Du willst es nicht wissen. Glaub mir.«
»Das wird eine große Versuchung sein.«
»Eine schreckliche Versuchung. Und ich bin sicher, du wirst es irgendwann tun. Aber kämpfe dagegen an, so gut du kannst. Bleib bei Fremden. Sie sind auch erschreckend, aber wenigstens hast du keine emotionale Bindung zu ihnen. Und du wirst nicht oft erleben, dass du der Gegenstand ihres Denkens bist.«
»Gut …«
»Mit
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