Der Gast: Roman
sich von den Leuten in den Gassen fernhielt, überlegte er. Und denen auf den Straßen. Und in den Autos. Wenn man von Polizisten und ein paar anderen Leuten, die nachts arbeiten mussten, absah, waren wahrscheinlich neunzig Prozent der Gestalten, die zu dieser Uhrzeit durch die Gegend liefen, Spinner, Perverse oder Verbrecher. Die meisten normalen Menschen schlossen sich in ihren Wohnungen oder Häusern ein.
Vielleicht probiere ich es bei einem meiner Nachbarn, dachte er.
Als er an dem Tor seines Gebäudes anlangte, wurde ihm klar, dass er es gar nicht benutzen musste. Er wünschte sich in die Höhe. Kurz darauf schwebte er über der Anlage. Er bewegte sich langsam voran und blickte in den Hof hinab.
Ein paar Lichter brannten. Die Laubengänge waren leer. Er sah niemanden im oder am Pool. Die meisten Bewohner schliefen wahrscheinlich schon.
Er glitt an der Rückseite des Gebäudes vorbei und blickte in die Gasse. Es gab Lichtflecke, Bereiche des Zwielichts und völlig dunkle Ecken.
Von hier oben konnte er eine Menge dunkle Stellen ausmachen.
Wo jemand lauern könnte.
Niemand kann mich berühren, sagte er sich. Ich bin unsichtbar, unbesiegbar.
Ich kann nichts ausrichten, aber zumindest bin ich in Sicherheit.
Er hörte in der Ferne etwas klappern und rappeln und spähte nach links. Ein Einkaufswagen wurde soeben in die Gasse geschoben. Zweifellos hatte die zusammengesunkene Gestalt mit Strickmütze und Mantel, die damit ihren gesammelten Müll durch die Gegend kutschierte, den Wagen aus einem Lebensmittelladen in der Nähe gestohlen. Neal konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war.
Jedenfalls nicht Rasputin, sagte er sich. Es sei denn, er ist nicht nur kugelsicher, sondern auch noch ein Gestaltwandler, der sich auf wundersame Weise von groß und dünn zu klein und dick umgeformt hatte.
In einer Welt, in der es so ein Armband gibt …
Neal wollte den Gedanken nicht weiter verfolgen; er führte in dunkle, äußerst verstörende Sphären.
Ich muss weitermachen, als wäre alles ganz normal, sagte er sich. Alles außer mir selbst. Genau. Das einzige Übernatürliche, das hier vor sich geht, betrifft mich und das Armband.
Das hoffe ich zumindest.
Und wenn das doch Rasputin ist?
Er war versucht, es zu überprüfen und merkte, wie er auf den Müllsammler zuraste.
Nein!
Er bog scharf nach links, eine panische Richtungsänderung, die ihn durch eine Hausmauer in eine Küche führte. In dem Zimmer war niemand, doch durch einen Türbogen fiel Licht herein. Neugierig bremste er ab und steuerte auf das Licht zu.
Im Wohnzimmer entdeckte er eine Frau, die auf der Ecke eines Sofas saß und im gelben Lichtschein einer Lampe ein Buch las. Außer ihr war niemand in dem Raum.
Sie sah ziemlich jung und normal aus.
Anfang zwanzig, schätzte Neal. Ihr weiches braunes Haar war sauber und ordentlich gebürstet. Sie hatte eine Brille auf. Ihr Gesicht war freundlich, hübsch, aber nicht auffallend schön. Sie trug ein großes weites T-Shirt, das ihr an einer Seite über die Schulter gerutscht war. Die Schulter war nackt.
Soll ich es bei ihr versuchen?, fragte sich Neal.
Warum nicht? Es könnte mich schlimmer treffen.
Nur ein kurzer Besuch, um herauszufinden …
Er war drin.
Und las.
Die Augen der Frau huschten über die Zeilen, und Neal versuchte, mit ihr zu lesen. Die Worte hatten ein merkwürdiges Echo. Er hörte die Gedanken der Frau und zugleich seine eigenen. Es klang wie ein Duett.
Obwohl die Worte dieselben waren, riefen sie im Kopf der Frau andere Bilder hervor, als er erwartete.
Ihre Bilder waren viel lebendiger als seine eigenen.
Das muss ja so sein, dachte Neal. Ich springe mitten rein. Sie hat schon das halbe Buch gelesen. Sie weiß, worum es geht, wie die Figuren aussehen …
Er bemerkte etwas Seltsames.
Die Figur in der Szene, eine Frau namens Nora, ähnelte sehr stark der Frau, die das Buch las.
Er las weiter.
Der Autor beschrieb Nora als rothaarig.
Doch im Kopf der Frau hatte sie kein rotes Haar.
Sie ignorierte die Beschreibung und gab ihr braunes Haar wie ihr eigenes.
Die Frau ist wirklich in die Geschichte eingetaucht, dachte Neal.
Fasziniert versuchte er weiterzulesen. Doch die widersprüchlichen Bilder waren zu verwirrend. Im Kopf der Frau sah alles anders aus als in seinem eigenen. Sie las dieselben Worte, doch es war, als sähe sie die Verfilmung des Buchs – einen Film mit demselben Drehbuch, aber einem anderen Regisseur und anderen Schauspielern als in Neals Version.
Er
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