Der Gast: Roman
auf.
»Wie hast du es nur geschafft, aus dem Gefängnis zu fliehen?«, fragte Nora.
Die Leserin dachte: Scheiße, jetzt geht das schon wieder los. Muss das sein? Hör doch auf damit. Frag ihn nicht aus, schlaf mit ihm.
Enttäuscht blätterte sie um.
Ein neues Kapitel.
Die Leserin überflog die ersten Zeilen und stellte fest, dass es sich um eine Rückblende handelte. Tyrones wagemutige Flucht aus dem Gefängnis.
»Mist«, murmelte die Leserin.
»Ohne mich, Freunde. Ich steige aus.«
Etwas genervt nahm sie ein Lesezeichen – ein glänzendes Dreieck, das aussah wie die abgerissene Ecke einer Zeitschriftenseite. Sie legte es hinein und schlug das Buch zu.
Das reicht jetzt sowieso. Morgen lese ich weiter und erfahre alles, was ich schon immer über Tyrones fabelhafte Flucht erfahren wollte.
Danach geht’s vielleicht am Strand weiter, wo die interessanten Sachen passieren.
Die Leserin stellte sich vor, selbst am Strand zu sein. Während ihre Gedanken umherschweiften, blickte sie zufällig auf den Buchumschlag. Der wilde Korsar, las Neal, von Amanda Burns. Bestimmt ein Pseudonym, dachte er.
Der Mann auf dem Umschlag trug ähnliche Kleidung wie Tyrone, doch ansonsten entsprach er kaum dem Bild der Leserin von ihm. Mit seinem Pferdegesicht, dem schulterlangen blonden Haar und den braunen vorstehenden Brustmuskeln hätte ihn niemand mit Gable, Selleck oder Brosnan verwechselt: Er sah aus wie ein aufgepumpter zweitklassiger Tänzer.
Die ungefähr zwanzigjährige Frau, die sich in seine muskulösen Arme schmiegte, hatte rostrotes Haar, und ihr Busen quoll aus dem Korsett. Ihr weiches, unschuldiges Gesicht blickte hoffnungsvoll.
Sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit Nora, die genauso aussah wie die Leserin.
Neal war ganz auf das Bild konzentriert, und es überraschte ihn, als die Leserin sich zur Seite drehte und das Buch auf den Beistelltisch warf.
Sie stand auf. Ihr linkes Bein fühlte sich ein wenig steif an; sie musste es eine Weile unter das andere geklemmt haben. Doch es kümmerte sie nicht besonders. Sie dachte in erster Linie daran, am nächsten Wochenende nach Venice Beach zu fahren.
Ich könnte Trudy anrufen und fragen, ob sie mitkommt. Will ich wirklich mit ihr fahren? Sie ist immer auf Männersuche. Wahrscheinlich lässt sie sich von irgendeinem Kerl aufreißen und verschwindet, und dann hänge ich allein am Strand rum. Da kann ich auch gleich allein fahren und mir den Ärger sparen.
Während sie darüber nachdachte, fragte sie sich auf einer weniger bewussten Ebene, ob sie daran gedacht hatte, die Wohnungstür zu verriegeln. Sie ging ein paar Schritte darauf zu und sah, dass die Kette eingerastet war.
Ich sollte allein fahren. Aber nicht nach Venice Beach, das ist zu nervig. Was für eine Freakshow. Und mittlerweile gibt es jedes Wochenende Schießereien zwischen irgendwelchen Gangs. Ich will nicht erschossen werden. Wie wär’s mit dem Strand von Santa Monica? Wahrscheinlich genauso schlimm. Und Malibu? Da sollte es okay sein.
Mit diesem angenehmen Gedanken schaltete sie das Licht aus. Bis auf den trüben Lichtschein, der durch die Vorhänge fiel, war es dunkel im Zimmer.
Vielleicht lerne ich einen netten Typen kennen. Wer weiß? Manchmal geschehen Wunder.
Während sie vorsichtig durch das Halbdunkel schritt, stellte sie sich vor, sie liefe schlank und gebräunt in einem weißen Bikini am Strand entlang. Und dann kommt der süßeste Hund an, den sie je gesehen hat. Sie hockt sich vor ihn, krault seinen Nacken und sagt: »Na, mein Junge.« Eine Stimme sagt: »Das ist Growler.« Sie blickt auf, und dort steht ein toller gebräunter Mann in weißer Badehose. Er ähnelt sehr Pierce Brosnan. »Und ich heiße Tom«, fügt er hinzu. Die Leserin erhebt sich, lächelt nervös und sagt: »Ich bin Karen.«
Aha!, dachte Neal. Karen! Sie heißt also Karen. Niemand würde sich in seiner Fantasie einen falschen Namen geben.
»Hallo, Karen«, sagte Neal in ihrem Kopf, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht hören konnte. »Ich heiße Neal. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Das wird garantiert nicht passieren, dachte Karen und erschreckte ihn damit.
Hat sie mich gehört?
Nein, sie war noch mit Tom beschäftigt, doch ihre Fantasie hatte sich ins Negative gewendet, als sich der zynische Teil ihres Bewusstseins einmischte. Ich werde nie so einen Mann kennenlernen. Wenn er hübsch ist, ist er entweder vergeben oder schwul. Oder er ist ein totaler Arsch, der sich selbst für ein Geschenk Gottes hält.
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