Der Gast: Roman
ignorierte die Worte und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau.
Das war ebenfalls verwirrend.
Sie schien ein Doppelleben zu führen. Sie existierte an zwei Orten gleichzeitig – zwei Frauen, die verschiedene Dinge taten, doch auf seltsame Weise miteinander verbunden waren und ineinanderflossen.
Die lesende Frau saß reglos auf dem Sofa, lehnte bequem an dem weichen Polster und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Obwohl sie tief in die Szene eingetaucht war, blieb sie sich auch ihrer selbst bewusst. Sie fühlte sich sicher und behaglich und war leicht erregt.
Neal fand es ziemlich angenehm, in ihr zu sein.
Er fragte sich, wie sie hieß.
Er hatte keine Chance, es herauszufinden, zumindest im Moment nicht.
Ich nenne sie einfach »die Leserin«, beschloss er.
Die Leserin und Nora.
Die Leserin saß mit dem Buch in der Hand auf dem Sofa, während Nora auf einem schwarzen Hengst ritt, der den Strand entlangtrabte. Das Meer war klar und blau und ruhig. Es war ein herrlicher wolkenloser warmer Tag. Ein sanfter Seewind blies durch Noras Haar, sodass es wie eine leuchtende braune Fahne hinter ihr flatterte. Sie trug ein weites weißes Nachthemd – ein Gewand, wie Neal es an Männern in illustrierten Dickens-Ausgaben gesehen hatte.
Er hatte keine Ahnung, warum sie so etwas zu ihrem Ausritt am Strand anhatte. Sie musste es erlangt haben, ehe Neal die Leserin besuchte.
Unter dem Gewand schien sie nackt zu sein. Zumindest im Kopf der Leserin. Die Leserin spürte das starke Pferd warm zwischen Noras nackten Beinen. Die Muskeln stießen beim Traben nach oben, und das Fell rieb über ihre Haut. Noras Brüste hüpften wild unter dem Nachthemd.
Die Leserin, die unter ihrem T-Shirt ebenfalls nackt war, spürte alles. Nicht nur das Pferd, auch die Sonne, die Meeresbrise und Noras Erregung. Sie tat einen tiefen zittrigen Atemzug und wand sich ein wenig. Das T-Shirt strich über ihre Brustwarzen. Neal konnte spüren, wie hart sie waren. Sie waren so empfindsam, dass die Leserin bei der sanften Berührung des Stoffs ein wohliger Schauder durchlief.
Nora entdeckte plötzlich einen Mann in der Ferne. Er kam ihr zu Fuß direkt am Wasser entgegen. Er war zu weit weg, als dass sie ihn hätte erkenne können, doch …
Tyrone?
Die Leserin schien Tyrone gut zu kennen. Gemeinsam mit Nora spürte sie eine Gefühlsaufwallung. Nora spornte den Hengst zu einem Galopp an. Sie und die Leserin rasten über den Strand, tief über das Pferd gebeugt und die Hände in der Mähne vergraben, während der Wind ihnen ins Gesicht blies und die Muskeln unter ihnen zuckten.
Ist das mein Tyrone?, fragte sich Nora.
Natürlich ist er das, dachte die Leserin.
Und sie hatte recht. Als sie nah genug waren, konnten sie ihn erkennen.
In der Vorstellung der Leserin war Tyrone schlank und muskulös und gekleidet wie ein Abenteurer. Sein weites weißes Hemd stand bis zur Taille offen und entblößte eine glatte gebräunte Brust. Statt eines Gürtels trug er eine bunte Schärpe. Darin steckte an einer Seite ein Dolch und an der anderen eine altertümliche Pistole. Er trug eine enge Lederhose und glänzende schwarze Stiefel, die ihm bis über die Knie reichten. Sein Haar war lang und dunkel und wehte im Wind.
Obwohl die Leserin und Nora nicht mehr an der Identität des Mannes zweifelten, konnte Neal sein Gesicht nicht richtig erkennen. Das lag jedoch nicht an der Entfernung oder dem Ruckeln des Pferds.
Es schien im Kopf der Leserin keine klare Gestalt zu haben. Als würde er ständig subtile Veränderungen durchlaufen. In einem Augenblick ähnelte Tyrone dem von Clark Gable gespielten Rhett Butler. Im nächsten Moment sah er aus wie Tom Selleck als Magnum. Dann wie Pierce Brosnan. Dann wieder wie Selleck. Erneut wie Brosnan. Als könnte sich die Leserin nicht entscheiden, wer ihr besser gefiel.
»Liebling!«, rief Nora. Das Pferd war noch nicht einmal stehen geblieben, als sie von seinem Rücken sprang. Sie stolperte durch den Sand auf Tyrone zu – der gerade aussah wie Brosnan.
Die Leserin wunderte sich, wie er entkommen war, doch sie war nicht in der Stimmung, lange nach einer Erklärung zu suchen. Im Moment wollte sie, dass Nora sich in Tyrones Arme warf.
Nora tat ihr den Gefallen.
Tyrone umarmte sie und die Leserin. Nora zog ihn fest an sich, drückte ihre Brüste gegen seinen starken Oberkörper. »Oh, mein Liebling!«, keuchte sie. »Ich fürchtete, dich nie wiederzusehen.«
»Hör schon mit dem Geplapper auf«, forderte die Leserin sie
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