Der Gast: Roman
Karen.«
»Du hast dich letzte Nacht noch mit einer Frau getroffen? Nachdem Marta zur Arbeit gefahren ist? Wahnsinn, da muss man sich ja fast eine Liste machen, bei dir und deinen ganzen Mädels. Marta, Elise, dann Karen … und ich.«
»Karen spielt keine große Rolle. Du kannst sie vergessen. Sie ist nur jemand, den ich mit dem Armband besucht habe. Es war ziemlich seltsam, deshalb bin ich dann tatsächlich zu ihr gefahren, und sie hat mich schließlich gekratzt. Mehr ist da nicht dran.«
»Warum hat sie dich gekratzt?«
»Ist doch egal. Wir hatten ein kleines Missverständnis.«
»Du hast sie nicht angegriffen oder …«
»Nein. Ich musste mich wehren. Aber ich habe sie nicht verletzt. Nicht ernsthaft jedenfalls. Das Problem war, ich wusste nicht, wie ich Marta die Kratzer erklären sollte. Ich meine, als sie zur Arbeit gefahren ist, waren sie noch nicht da. Und ich konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Nicht, ohne ihr von dem Armband zu erzählen. Deshalb habe ich ihr eine Nachricht hinterlassen und bin abgehauen. Ich hatte vor, so lange wegzubleiben, bis die Kratzer verheilt sind.«
»Das kann ein oder zwei Wochen dauern. Mein Gott. Bist du nicht Schriftsteller?«
Er runzelte die Stirn. »Habe ich dir das erzählt?«
»Ich hab fünf oder zehn Minuten in dir gesteckt. Da hab ich eine Menge rausgefunden.«
»Habe ich an meine Arbeit gedacht?«
Sie zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Jedenfalls hab ich es irgendwie aufgeschnappt. Du bist also echt Schriftsteller – dann solltest du dir doch eine gute Lüge ausdenken können.«
»Vielleicht. Aber ich wollte sie nicht schon wieder anlügen. Und ich glaube … ich dachte, es wäre besser für uns beide, wenn ich eine Weile verschwinde.«
»Jetzt hast du mich und kannst jederzeit wieder auftauchen.«
»Wie meinst du das?«, fragte er.
»Tja, ich tu einfach behaupten, dass ich deine Arme zerkratzt hab. Dann brauchst du Karen nicht zu erwähnen. Wir sagen Marta, dass wir beide zufällig in The Fort waren und du mir das Leben gerettet hast, als ich beinahe aus der Achterbahn gefallen bin. Das ist eine ziemlich gute Geschichte, oder?«
»Es gibt nur ein Problem«, sagte Neal. »Sieh dir mal deine Fingernägel an.«
Sie hob die Hände vors Gesicht, mit abgewandten Handflächen wie ein Pantomime, der gegen eine unsichtbare Wand drückt. »Ich könnte dich damit kratzen.«
»Die sind viel zu kurz.«
»Tja, wachsen tun sie von allein. Warten wir ein paar Tage ab. Ich kau sie einfach nicht ab, während wir in The Ford sind. Dann sind sie lang genug, wenn wir sie Marta zeigen.«
»Aha«, sagte Neal.
Er bemühte sich zu lächeln.
Was hat sie vor? Will sie bei mir einziehen?
25
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Als Neal an einer Tankstelle anhielt, sagte Sue: »Ich geh mal in die Keramikabteilung.«
»Was?«, fragte er.
»Ich geh pinkeln. Bist du nicht angeblich Schriftsteller? Weißt du nicht, was es bedeutet, wenn jemand in die Keramikabteilung gehen tut?«
»Ich glaub nicht.«
»Ich will ja keine abfälligen Bemerkungen über deine Intelligenz oder so machen, aber meine Fresse!« Sue griff zwischen ihre Knie und nahm ihre Tüte. »Bis gleich.« Sie stieg aus dem Auto und schwang die Tüte an ihrer Seite, während sie zu dem kleinen Laden in der Tankstelle ging.
Neal, der noch hinter dem Lenkrad saß, zog das Armband von seinem Handgelenk und steckte es in die Hosentasche. Dann griff er nach dem Zündschlüssel, um den Motor auszuschalten.
Plötzlich kam ihm der Gedanke, einfach wegzufahren. Jetzt sofort. Ohne Sue. Bis sie gemerkt hätte, was geschah, wäre er schon verschwunden.
Warum sollte ich das tun?, überlegte er.
Weil sie über das Armband Bescheid weiß.
Aber sie weiß auch, dass ich in den Mord verwickelt bin, rief er sich ins Gedächtnis. Und sie weiß, wer ich bin und wohin ich fahre.
Die Sache mit dem Armband wird ein echtes Problem werden. Sie wird es ständig benutzen wollen. Vielleicht versucht sie sogar, es zu stehlen.
Er hätte sie es nie anfassen lassen sollen.
Ich könnte sie hier stehen lassen. Sie kennt vermutlich nicht meinen Nachnamen. Ich könnte woanders hinfahren.
»Ja, klar«, murmelte er, zog den Schlüssel aus der Zündung und stieg aus.
Egal, wie viel Ärger er sich damit erspart hätte, Neal wusste, dass er zu so etwas einfach nicht fähig war.
Sie irgendwo an einer abgelegenen Tankstelle sitzen lassen?
Er nahm an, Sue käme wahrscheinlich ganz gut zurecht. Vermutlich würde es nicht länger als fünf Minuten dauern, bis sie eine andere
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