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Der Gast: Roman

Der Gast: Roman

Titel: Der Gast: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Laymon
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Sue ihn auf.
    Eine sehr dicke Brieftasche aus rotem Leder und mit verschlissenen Ecken.
    »Was hast du da drin?«
    »Alles Mögliche.«
    Neal öffnete sie.
    »Da ist mein Führerschein.« Sie streckte den Arm aus und tippte darauf.
    Der Führerschein steckte in einem Kartenfach mit trüber grauer Plastikabdeckung. Sie zeigte auf das Foto. »Das bin ich.«
    »Sieht so aus.«
    »Ich bin es. Wer soll das sonst sein?«
    »Da steht Barbra Sue Babcock.«
    »Niemand darf mich Barbra nennen. Das ist ein blöder Name. Ich hab ihn mir nicht ausgesucht, deshalb nenn ich mich einfach Sue.«
    »Aha«, sagte Neal.
    Auf dem Führerschein stand eine Adresse in Mojave.
    Nachdem er überprüft hatte, dass der Führerschein noch nicht abgelaufen war, warf er einen Blick auf das Geburtsdatum.
    »Du bist erst achtzehn.«
    »In genau einem Monat werd ich neunzehn.«
    »Mein Gott.«
    »Hast du ein Problem damit?«
    »Du bist einfach … so jung.«
    »Und wie alt bist du? Neunzehn?«
    »Knapp daneben.«
    Sie lachte.
    »Jedenfalls«, sagte Neal, »hast du wohl einen gültigen Führerschein.«
    »Was hab ich dir gesagt?«
    Er schloss die Brieftasche und öffnete den Reißverschluss der Handtasche.
    »Willst du dir nicht alles angucken?«
    »Nein, schon okay. Ich wollte nur sichergehen, dass du einen Führerschein hast.« Er schob die Brieftasche in die Handtasche und machte schnell den Reißverschluss zu. Dann legte er die Handtasche zurück in die Papiertüte und schlug den zerknitterten Rand um.
    Sue lächelte ihn an. »Ich bin eine gute Fahrerin. Schon gemerkt?«
    »Tja, ich habe gemerkt, dass du bis jetzt noch keinen Unfall gebaut hast.«
    »Ich kauf mir irgendwann ein nagelneues Auto. Ich spar nämlich. Dann hol ich mir so einen Jeep Cherokee mit Allradantrieb und fahr damit quer durchs ganze Land. Nur auf Nebenstraßen, wenn’s geht. Ich steh nicht so auf diese verdammten Schnellstraßen. Ich werd über Nebenstraßen fahren und überall halten und Leute besuchen.«
    »Verwandte?«
    »Nein! Fremde Leute. Nur, um mal Hallo zu sagen und zu sehen, wie sie drauf sind. Mit ihnen quatschen, verstehst du? Dann fahr ich einfach weiter, und sie gucken mir hinterher und sagen: ›Was für ein nettes Mädchen. Schade, dass sie nicht hierbleiben kann.‹«
    Neal sah sie an.
    Sie runzelte die Stirn. »Was ist? Findest du das blöd?«
    »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht.«
    Sie blickte eine Weile geradeaus auf die Straße. Dann seufzte sie. »Wenn ich nicht schon ein alter Krüppel bin, bis ich genug Geld für den Jeep zusammengekratzt hab.«
    »Ich nehme an, du verdienst nicht so viel bei Sunny’s.«
    »Nein.« Sie sah ihn an und zog die Brauen zusammen. »Ich überleg, ob ich kriminell werden soll.«
    Er lachte.
    »Glaubst du, ich mach Witze?«
    »Ich hoffe es.«
    »Tja, stimmt auch«, sagte sie, als ärgerte sie sich über sich selbst. »Ich bin nicht Bonnie und Clyde. Hast du den Film mal gesehen?«
    »Ja.«
    »Hast du gesehen, wie die beiden am Schluss durchlöchert werden?«
    »Ja. In Zeitlupe.«
    »So was ist immer in Zeitlupe, ist dir das schon mal aufgefallen? Bei Thelma und Louise ist es das Gleiche, wenn sie sich mit ihrem Wagen in den Grand Canyon stürzen. Zeitlupe. Immer Zeitlupe. Jedenfalls will ich nicht so enden. Wenn man kriminell wird, wird man wahrscheinlich getötet, und was bringt das dann? Was hat man von einem Jeep Cherokee mit Allradantrieb, wenn man tot ist?«
    »Nicht viel«, sagte Neal.
    »Außerdem, wen soll ich ausrauben? Wo find ich jemanden zum Ausrauben, bei dem es mir nicht hinterher leidtut? Weil das Geld doch ihnen gehört. Ich hab kein Anrecht drauf. Ich würd mich nur schlecht fühlen.«
    »Wenn du so empfindest«, sagte Neal, »kannst du ein Leben als Kriminelle vergessen.«
    »Ich weiß. Es ist zum Kotzen.«
    »Du bist ein guter, anständiger Mensch, sonst nichts. Das muss einem nicht leidtun.«
    »Tja, aber es kann einem leidtun, dass man keinen Jeep Cherokee in die Finger kriegt, bevor man so alt ist wie Methusalem, oder?«
    »Ja, ich glaub schon.«
    Danach schwieg Sue eine Weile. Mit gespitzten Lippen wiegte sie sanft Kopf und Schultern hin und her, als hätte sie eine Melodie im Kopf.
    Neal wollte schon das Radio einschalten, als sie plötzlich wieder zu sprechen begann. »Das Armband«, sagte sie. »Mit so was kann man bestimmt jede Menge Kohle machen.«
    »Ich habe nicht vor, es zu verkaufen«, entgegnete Neal.
    »Nein, verkaufen meine ich nicht. Man kommt damit in die Köpfe von den

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