Der Gastprofessor
hinunter.
Im Haus von Rebbe Nachman putzt sich Lemuel an dem schäbigen Teppich in der Diele die Schuhe ab, bevor er ins Wohnzimmer geht. Hinter der geschlossenen Küchentür spielt ein Radio. Er umklammert immer noch Rains ausgehöhltes Buch, fragt sich, ob darin wohl irgendwo der geheiligte Name Gottes genannt wird, und betrachtet die hüfthohen Büchertürme, die sich mit den Rücken nach außen an die Wände lehnen und sich die halbe Treppe hinaufziehen. Draußen auf der Straße hat er mit dem Gedanken gespielt, das Buch samt Inhalt in eine Mülltonne zu werfen, sich aber dagegen entschieden – irgend jemand hätte das Buch, auf dem sicher massenhaft Fingerabdrücke von Rain waren, finden und der Polizei übergeben können. Besser, er versteckt es – aber wo? Der letzte Ort, wo man nach einem Buch suchen würde, überlegt er, ist ein Stapel Bücher. Und der erste Stapel, der ihm in den Sinn kommt, ist Nachmans Sammlung von Büchern mit dem Namen Gottes.
Lemuel kann gerade noch den Hite Report in einen Stapel auf einer der unteren Treppenstufen schieben, da geht die Küchentür auf.
»Lemuel?«
Der Rebbe, der liliputanischer wirkt, als Lemuel ihn je gesehen hat, kommt ins Wohnzimmer gehastet und knipst die Deckenlampe an. Seine geringelten Schläfenlocken tanzen nervös auf und ab, er geht gebückt wie eine Klammer und späht mit ängstlich aufeinander zustürzenden Kakerlakenbrauen die Treppe hinauf. Als er zu sprechen anfängt, klingt seine Stimme ungewöhnlich heiser, so als hätte er zuviel Parolen geschrien. Aber wofür. Oder wogegen?
»Seit vier Stunden frage ich mich, ob dieser schlimasl wohl nie mehr wiederkommt.«
»Besser spät als nie.«
»Wie konnten Sie das tun?«
»Wie konnte ich was tun?«
»Ich dachte, ich wäre Ihr Freund.«
»Sind Sie auch.«
»Ich dachte, Sie vertrauen mir.«
»Hey, tu ich doch auch.«
»Dann erklären Sie mir, wenn das im Bereich des Möglichen liegt, warum Sie sich mir nicht anvertraut haben.«
»Anvertraut? Womit denn, um Himmels willen?«
Der Rebbe senkt seine Stimme zu einem krächzenden Flüstern. »Wir haben am selben Tisch gesessen, wir haben dasselbe Brot gegessen, wir tranken denselben Puligny Montrachet. Sie hätten mir wenigstens von den Codes erzählen können.«
Lemuel schließt die Augen. »Nicht auch noch Sie, bitte nicht!«
»Jedermann in Backwater, was sage ich, auch jedermann außerhalb von Backwater hat offenbar Bescheid gewußt, nur ich nicht. Was habe ich getan, daß ich es als letzter erfahre? Womit habe ich das verdient?«
»Wer hat’s Ihnen gesagt?«
»Ein kleines Vögelchen hat’s mir gezwitschert. Oj, Lemuel, Lemuel, wenn Sie mich ins Vertrauen gezogen hätten, hätte ich Ihnen jede Menge zores ersparen können.« Der Rebbe steigt auf die erste Stufe. »Kann ich übrigens immer noch. Ihnen eine Menge zores ersparen.«
Lemuel massiert sich mit Daumen und Mittelfinger die Augenlider. »Sagen Sie bloß nicht, Sie arbeiten für einen Geheimdienst.«
»Ein Spion zu sein, das ist so, als wäre man ein Messias.«
»Sagen Sie jetzt bloß nicht, daß Sie für die Israelis arbeiten.«
»Ich arbeite eigentlich nicht für sie.« Der Rebbe rückt auf der Treppe ein Stückchen höher. »Ich bin, was man gemeinhin einen Kopfjäger nennt und was ich als Herzjäger verstehe. Wenn ich einen warmen Körper gefunden habe, der vielleicht ein heißer Tip ist, hole ich die Verschlüsselungsanweisung, die man mir gegeben hat, aus ihrem Versteck hervor« – der Rebbe zeigt mit dem Bart auf einen besonders hohen Bücherstapel neben der Küchentür – »und schicke eine verschlüsselte Ansichtskarte an eine Adresse in Israel. Per Luftpost. Sehen Sie mich nicht so an. Ich schäme mich nicht, Teil der jüdischen Weltverschwörung zu sein. Die Welt wimmelt von Antisemiten, will sagen, von Menschen, die die Juden mehr als nötig hassen. Es ist für die Prosemiten eine Sache auf Leben und Tod, die Post dieser Leute zu lesen.«
»Warum ich?«
»Wenn nicht Sie, wer dann? Ich flehe Sie an, Lemuel, verschließen Sie nicht die Ohren vor dem Menetekel. Es vergeht kein Tag, nicht einmal eine Stunde, in der ich nicht die letzten Seiten der Zeitung auf kleine Artikel durchsehe, die den Beginn eines neuen Holocaust ankündigen. Sie geben sich Mühe, nicht über Dinge zu lachen, die Ihnen absurd vorkommen. Ihr Zynismus ist eine Beleidigung für die Eltern, die Sie aufgezogen haben. Lesen Sie und weinen Sie. »Angeblich siebenhunderttausend Juden in einem
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