Der Gastprofessor
in die Küche, um in die Spüle auszuspucken. Jemand packt ihn am Arm.
Lassen Sie ihn los, bittet seine Mutter. Er ist doch erst sechs.
Als Lemuel wieder ins Schlafzimmer zurückkommt, heben die gesichtslosen Männer gerade die Rückwand des Schranks aus dem Rahmen. Einer von ihnen bemerkt ein loses Stück Tapete über den Dielen. Er geht in die Hocke, reißt die Tapete von der Gipsplatte, greift in den Spalt und bringt ein Buch zum Vorschein. Lemuels Vater wirft einen raschen Blick auf den Jungen, der kaum noch zu atmen wagt.
Der leitende Agent blättert das Buch durch, dessen Seiten Eselsohren haben und voller unterstrichener Wörter und Sätze sind. Es ist Englisch, verkündet er. Er liest einen unterstrichenen Satz vor: »Stretching abdominal muscles in this manner fifteen minutes a day.« Er schlägt die Titelseite auf. The Royal Canadian Air Force Exercise Manual. Er schaut auf. Das ist eindeutig ein Code-Lexikon, das zur Verschlüsselung und Entschlüsselung geheimer Mitteilungen dient, befindet er. Er legt das Buch zu den Briefen und Fotoalben in eine Kiste, die in Schablonenbuchstaben die Aufschriften BEWEISMATERIAL und OBEN trägt.
Lemuels Vater schüttelt frustriert den Kopf. Sie verstehen nicht. Ich habe das Buch aus dem Großen Krieg mitgebracht. Ein kanadischer Pilot, den ich aus einem
Kriegsgefangenenlager befreite, hat es mir geschenkt. Ich benutze das Buch gemeinsam mit meinem Sohn Lemuel. Ich verwende es als Anleitung für Gymnastikübungen. Mein Sohn lernt damit Englisch.
Wäre das Buch nicht in der Wand versteckt gewesen, könnte Ihre Geschichte glaubwürdig klingen, sagt der leitende Agent.
Lemuels Mutter redet leise und eindringlich auf Lemuels Vater ein. Dieser sagt: Wir haben den Fehler gemacht, dem Jungen zu sagen, daß englische Bücher verboten seien. Als er sah, daß Sie das Wohnzimmer durchsuchen, muß er unter den Schrank gekrochen sein und es in der Wand versteckt haben, um weiterhin Englisch lernen zu können. Der Vater lächelt seinem Sohn verkrampft zu. Das Royal Canadian Air Force Exercise Manual ist sein kostbarster Besitz.
Plötzlich schauen alle Lemuel an, der in der Zimmerecke kauert. Stimmt es, daß du mit diesem Buch Englisch lernst? fragt ihn einer der gesichtslosen Männer.
Lemuel, der am ganzen Körper zittert, schüttelt den Kopf. Von Schluchzern unterbrochen, die ihm das Atmen schwermachen, wimmert er immer und immer wieder: Ich hab das Code-Lexikon nicht versteckt.
Lemuels Mutter fängt an zu weinen. Sein Vater streicht mit dem Handrücken über den Handrücken seiner Mutter. Mit Ihrer Erlaubnis, sagt sein Vater zu den gesichtslosen Männern, hole ich meine Toilettensachen aus dem Badezimmer.
»Es ist mein Buch!« hört Lemuel sich schreien. Gütiger Gott, er ist vierzig Jahre lang durch eine Wüste gewandert, aber besser spät als nie.
Plötzlich sehen wieder alle im Haus Lemuel an. »Von welchem Buch sprechen wir denn, Sportsfreund?« erkundigt sich Mitchell.
Lemuel zieht den ausgehöhlten Hite-Report aus dem Bücherstapel und reicht ihn Mitchell. Doolittle und Mitchell wechseln triumphierende Blicke. Der Rebbe will die Treppe hinaufsteigen, aber einer der Klone stellt sich ihm in den Weg. Mitchell nimmt das Buch, schlägt es auf und betastet die Röhrchen und Päckchen mit der Fingerspitze.
»Das ist ein Drogenversteck«, sagt er, sichtlich überrascht.
»Das kenne ich d.«, setzt der Rebbe an, aber Lemuel fällt ihm ins Wort.
»Yo, Ascher, darf ich das bitte auf meine Art erledigen, ja? Ich entschuldige mich dafür, daß ich Ihre Gastfreundschaft mißbraucht habe. Ich brauchte ein Versteck dafür.«
»Warum erzählen Sie diesen wildgewordenen Typen, daß das Buch Ihnen gehört?«
»Weil es im Grunde genommen die Wahrheit ist.«
»Ich dachte, wir sollten hier einen israelischen Agenten verhaften«, mault einer der Klone.
»Wir haben auch nichts dagegen, einen großen Fisch an Land zu ziehen«, sagt Doolittle.
»Denken Sie an die Möglichkeit«, sagt der Rebbe gekränkt zu Doolittle, »daß es als Antisemitismus ausgelegt werden kann, einen angeblichen israelischen Agenten als kleinen Fisch zu bezeichnen.«
Lemuel lächelt dem Rebbe unsicher zu. »Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, Ascher. Ich kann zu Ihnen sagen, daß Sie ein gleichgesinnter Homo chaoticus geworden sind. Das Chaos, das mich wie ein Schatten begleitet – manchmal ist es vor mir, manchmal hinter mir –, liebe ich nach wie vor nicht, aber ich glaube, ich kann jetzt mit ihm
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