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Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
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kleinen polnischen Ort namens Oswiecim vernichtet« So hat die New York Times, die angeblich alle Nachrichten bringt, die es wert sind, im Druck zu erscheinen, zum erstenmal darüber berichtet, was die Nazischweine im Schild führten. Es war auf der letzten Seite, das Kreuzworträtsel war auffälliger, die Titelseite war einem hochaktuellen Artikel über die Sommerferien vorbehalten.«
    Lemuel setzt sich auf die mit einem Teppich belegte Stufe. »Ich kann zu Ihnen sagen, Rebbe, daß ich die Nase voll habe von Code-Lexika. Und von Subtexten.«
    Der Rebbe sinkt auf der nächsttieferen Stufe auf die Knie. »Lemuel, Lemuel, alles im Leben ist verschlüsselt. Die Thora, die mir teurer ist als der Sauerstoff, das Geflüster von Liebenden, das Geseire eines Rabbis, Ihr Links-Rechts-Entweder-Oder, sogar Romane, Romane ganz besonders, sie alle haben einen Subtext. Wenn es keinen Subtext gibt, ist das Fehlen des Subtexts der Subtext; die Aussage lautet dann: Ich möchte dich unbedingt überzeugen, daß das, was du siehst, auch das ist, was du kriegst. Wie Ihre frühere Freundin, die Schickse, sagen würde: Leben Sie Ihr Leben. In dieser meschuggenen Welt liegt zwischen der Erfahrung und der für ihre Beschreibung verfügbaren Sprache, ha!, zwischen der joie de vivre und ihrer Exegese, ein Abgrund. Codes, Subtexte sind die Brücke über den Abgrund.«
    »An diesem Punkt sagen mir die andern Anwerber meistens, was für mich drin ist.«
    »Oj, Sie haben meinen Subtext nicht entschlüsselt. Nichts – das ist drin für Sie. Wenn Sie nach Israel gehen, um den Juden zu helfen, Codes zu machen und Codes zu knacken, werden Sie in einer engen, lauten Wohnung in Tel Aviv wohnen – im Vergleich zu dieser Stadt wird Ihnen Petersburg wie das verlorene Paradies vorkommen. Wie jeder andere im Heiligen Land werden Sie ständig Ihr Konto überziehen, um über die Runden zu kommen. Sie werden Urlaub an einem verseuchten Meeresstrand machen, an dem es von Rotznasen wimmelt, die Ihnen Sand ins Gesicht kicken. Aber Sie werden Israel dienen, und durch Israel – Jahwe.«
    »Ich bin noch immer nicht hundertprozentig sicher, daß es Ihn gibt.«
    Der Rebbe hockt sich neben Lemuel. »Und wo steht geschrieben, daß man Gott nicht dienen kann, während man Ihn sucht?«
    »Sagen Sie mir eins, Ascher. Glauben Sie wirklich, daß der Typ existiert? Nähern wir uns dem Problem mal aus einer anderen Richtung – haben Sie Ihn entdeckt oder haben Sie Ihn erfunden?«
    Die Glotzaugen des Rebbe blitzen auf. Er fixiert Lemuel mit einem wilden Blick. »Wenn Sie einen dreiteiligen Anzug sehen, erfinden Sie den Schneider nicht, Sie entdecken ihn. Warum sollte es anders sein, wenn Sie eine blühende Rose sehen, einen Vogel im Flug, einen Schneesturm, der die Ostküste lahmlegt, einen Fußabdruck des Chaos im Treibsand der Zeit?«
    Seufzend zieht er ein riesiges Taschentuch aus der Innentasche seines Sakkos, entfaltet es mit theatralischem Pomp und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Schließlich sagt er: »Ich habe Sie heute abend im Fernsehen gesehen. Dank Ihnen haben die den Serienmörder ans Kreuz genagelt, sozusagen. Sie sind wieder einmal der Held des Tages.« Eine seiner Hände legt sich auf Lemuels Unterarm. »Ich habe gesehen, wie Sie zusammengekrümmt in dem Auto gesessen haben, ich habe Sie sagen hören, die Suche nach einem einzigen Beispiel für reine, unverfälschte Zufälligkeit sei die Suche nach Gott. Also worauf warten Sie noch, Lemuel? Geben Sie sich einen Ruck. Tun Sie, wozu ich selbst mich nicht durchringen konnte. Wagen Sie den Sprung.«
    Lemuel windet sich. »Was für einen Sprung meinen Sie?«
    »Den Sprung des Glaubens. Okay, die Thora ist vielleicht eine Dose voller Würmer. War es David, der den Goi Goliath erschlug, ich spreche von 1. Samuel 17, oder ein Lokalheld namens Elhanan, ich spreche von 2. Samuel 21, Vers 19. Wie auch immer, die Thora ist dennoch das Werk Gottes und das Wort Gottes, gepriesen sei Sein heiliger Name. Der Subtext, die Codes, das, was zwischen den Zeilen steht, sind ebenfalls sein Werk. Sie und ich, Lemuel, wir können vielleicht aus entgegengesetzten Richtungen an die Thora herangehen, aber im tiefstem Innern sind Sie genauso koscher wie ich. Nicht von ungefähr bedeutet Ihr Name »der Gottesfürchtige«.
    »Sie haben eine überzeugende Show abgeliefert«, sagt Lemuel müde.
    »Jedes Wort kommt aus dem Bauch«, erwidert der Rebbe ruhig.
    Plötzlich wird Lemuel aggressiv: »Was ist für Sie drin, wenn ich auf der

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