Der Gastprofessor
ins Wohnzimmer und wärmte eine tiefgefrorene Pizza im Wäschetrockner auf; mein Herd hat nämlich kein Backrohr, und Pizza ist neben Spiegeleiern eins der wenigen Dinge, die ich zubereiten kann. Ich hatte mir mein arabisches Gewand wieder übergeworfen, aber L. Falk hat immer wieder mit dem Finger den V-Ausschnitt geteilt, um einen Blick auf den Schmetterling zu werfen. Wir saßen also am Tisch und starrten auf die leergegessenen Teller, als er das Stück Kreide sah, das an einer Schnur neben der Tafel hängt, auf der ich mir notiere, was ich einkaufen oder wen ich anrufen muß oder wann meine letzte Periode angefangen hat. Auf einmal grapschte sich L. Falk die Kreide und fing an, wie ein Besessener auf die Tafel zu kritzeln. Ich hab’s nicht abgewischt, es steht immer noch drauf, falls Sie sich selbst überzeugen wollen: I. J. u. I. V. n. G. e. m. n. a. a. m. A. u. m. U. z. G. Ich hab ihn natürlich gefragt, was das bedeuten soll, aber er hat nur gesagt, daß das von Leo N. Tolstoi ist, daß in Rußland jedes Kind die Story kennt und daß ich sie selber entziffern müßte.
Als er wieder an den Tisch zurückgekommen ist, hat er sich so schwer auf den Stuhl fallen lassen, daß der zusammengeklappt und L. Falk auf dem Hosenboden gelandet ist.
Mich hat’s fast zerrissen vor Lachen.
Und L. Falk auch. Wir haben uns beide die Bäuche gehalten. Ich weiß nicht, warum, aber ich fing an zu lachen und er lächelte ein Lächeln, das zu zwei Dritteln amüsiert war, und im nächsten Moment hat er auch lachen müssen, und auf einmal hab ich so laut darüber gelacht, daß er lacht, daß mir die Tränen gekommen sind. Und dann, so wahr ich hier stehe, hat er auch zu heulen angefangen. Sie hätten uns sehen sollen, L. Falk auf dem Boden, ich neben ihm auf den Knien, von Lachen geschüttelt, und beiden laufen uns die Tränen übers Gesicht. Als wir uns endlich die Tränen abgewischt hatten, ist das Gelächter von vorn losgegangen. Irgendwann in all dem Lachen und Weinen und Lachen hat er was gebrabbelt, wo ich mir keinen Reim drauf machen konnte – irgendwas in der Richtung, daß er jetzt versteht, wie es möglich ist, sein Herz auf dem Ärmel zu tragen.
Und im nächsten Moment waren wir schon mittendrin in dem Vorspiel, das danach kommt. L. Ficker-Falk. Sachen gibt’s.
Am nächsten Morgen haben sie ihren ersten Streit. Es geht, zumindest oberflächlich betrachtet, um rein gar nichts.
Rain schlägt zwei Eier in die Pfanne. »Sonnenseite nach oben und kurz gewendet, mit frisch geklauten geräucherten Muscheln als Beilage, eine Spezialität des Hauses«, prahlt sie.
»Was bedeutet kurz gewendet?«
»In der letzten Sekunde dreh ich die Spiegeleier um und brate den Dotter kurz an. So läuft die Sonne nicht in die Muscheln.«
»Laß das kurz gewendet weg, wenn ich bitten darf. Mir sind auslaufende Dotter lieber.«
»Aber Sonnenseite nach oben ist nicht die Spezialität des Hauses«, beharrt Rain. »Sondern Sonnenseite nach unten.«
Lemuel mustert sie. Er lächelt das überwiegend nachdenkliche dünne Lächeln. »Wer bestimmt, welche Seite oben ist?«
»Hey, ist doch meine Küche, oder? Und es sind meine Eier. Und es ist meine Pfanne. Ich bestimme.«
»Du gibst keinen Millimeter nach, was?«
Rain wendet sich ihm zu. »Mein Dad, der Hangarchef vom Bodenpersonal eines B-52-Bombers war, hat mir beigebracht, mein Territorium immer an der gottverdammten Grenze zu verteidigen. Manchmal bedeutet das, daß man aus einer Mücke einen Elefanten machen muß.«
»Wir nähern uns diesem Dilemma von den entgegengesetzten Enden des Spektrums«, sagt Lemuel. »Mein Vater hat mir beigebracht, daß man sich, wenn man weiterleben und weiterkämpfen will, auch mal zurückziehen und sich an einem großen Fluß oder in einer großen Stadt neu sammeln muß.
Die Russen, die Napoleon aufgehalten haben, die im Großen Vaterländischen Krieg die Faschisten aufgehalten haben, haben diese Methode mit einigem Erfolg angewandt.«
»Hey, sehe ich aus wie eine Faschistin?« Mayday, die sich unter dem Tisch zusammengerollt hat, folgt dem Streit mit den Augen. »Und sieht das hier aus wie ein großer Fluß oder eine große Stadt? Tu mir einen Gefallen und iß die Eier kurz gewendet.«
Rain wendet die Spiegeleier in der Pfanne. Lemuel zuckt gleichmütig die Achseln. »Wenn wir an einen großen Fluß oder in eine große Stadt kommen«, sagt er leise, »wirst du einen anderen L. Falk kennenlernen.«
4. KAPITEL
Lemuel beginnt den Tag mit einem
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