Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gastprofessor

Der Gastprofessor

Titel: Der Gastprofessor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Littell
Vom Netzwerk:
flotten Marsch – durch die Gänge des E-Z Mart. Im Hinausgehen wirft er einen Zettel in Dwaynes Eingangskörbchen, auf den er geschrieben hat, welche Artikel bedenklich knapp geworden sind. »Gestern waren viel mehr fettarme Joghurts da als heute«, hat er notiert. »Dasselbe gilt für Kellogg’s Cornflakes und Mrs. Foster’s krümelfreie Schokoladenkekse.«
    Als die Turmuhr der frisch getünchten Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten neun schlägt, findet sich Lemuel im Institut ein und flirtet kurz mit seinem weiblichen Freitag, einer fülligen Frau namens Mrs. Shipp, die errötet, als er mit den Lippen ihren Handrücken streift. In seinem Büro verstellt er die Jalousien, bis das Licht stimmt, und schreitet die Abstände zwischen den Wänden ab, um sich zu bestätigen, was er schon weiß, nämlich daß der ihm zugeteilte Raum doppelt so groß ist wie sein altes Büro in Sankt Petersburg. Er nimmt eines der mitgebrachten Bücher aus dem Regal, schlägt es an verschiedenen Stellen auf, um Variable zu überprüfen, die mit dem langsamen Kreisen der Galaxien und dem wilden Flug der Elektronen zusammenhängen, und ruft dann Mrs. Shipp zum Diktat.
    »Beginnen sollte der Vortrag«, intoniert er, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen und das Ohr auf das Kratzen des Füllers auf ihrem Notizblock eingestimmt, das ihn an den endlos in der letzten Rille von Schuberts Streichquintett in C-Dur schleifenden Tonabnehmer erinnert, »mit der Definition des ersten Eigenwerts und der Eigenfunktion im klassischen Fall, und anschließend sollte ich diskutieren, was ich unter dem Maximum-Prinzip verstehe. An dieser Stelle sollte ich eine Fußnote anbringen und erklären, daß ich im klassischen oder stetigen Fall die Krein-Rutman-Theorie des ersten Eigenwerts zugrunde lege.«
    »Entschuldigen Sie, Herr Professor«, unterbricht ihn Mrs. Shipp, »wie schreibt man bitte Krein-Rutman?«
    »K, W, A, S.«
    »Ich verstehe nicht …«
    Lemuel erinnert sich an die Redewendung, die Rain benutzte, als sie ihm den G-Punkt erklären wollte. »Ich habe Sie. auf den Arm genommen, Mrs. Shipp.« Er buchstabiert ihr den Namen Krein- Rutman und diktiert weiter. »Ich darf nicht vergessen zu erwähnen, daß der stetige Bereich bei den Randbedingungen die Gültigkeit des Hopf-Lemmas voraussetzt »Entschuldigen Sie.«
    Lemuel öffnet die Augen.
    »Wie schreibt man bitte Hopf-Lemma, Herr Professor?«
    »S, T, O, C, K, Bindestrich, F, I, S, C, H.«
    Mrs. Shipp schreibt erst mit, dann schaut sie auf. »Das ist wohl wieder einer Ihrer Scherze?«
    Lemuel dreht sich mit seinem Sessel und schaut durch die Jalousie hinaus. Er sieht Studenten, die am Fuß des Glockenspielturms auf Mülltonnendeckeln den vereisten Hang zum Parkplatz der Bibliothek hinunterschlittern. Wenn er sich konzentriert, kann er ihr Gekreisch hören. Er sehnt sich danach, seine Arbeit liegenzulassen, den Hügel zu dem Turm hinaufzusteigen und auch auf einem Mülltonnendeckel den Hang hinunterzufahren. Er überlegt, ob es möglich wäre, aus Gewicht und Gestalt des Mülltonnendeckels, dem Reibungskoeffizienten der vereisten Oberfläche und der Topographie des Abhangs die Bahn eines bestimmten Deckels bei einer beliebigen Fahrt zu berechnen. Er überlegt, was ihn davon abhält, sich zu den vor Begeisterung schreienden Studenten auf dem Hügel zu gesellen.
    Er fragt sich, was bei ihm nicht stimmt, daß er jedes irdische Vergnügen unweigerlich in Futter fürs Chaos verwandelt.
    »Ich kann zu Ihnen sagen, daß es sich um ein schwaches Beispiel für russischen Humor handelt«, sagt Lemuel schließlich über die Schulter zu Mrs. Shipp.
    Später, als die Sekretärin das Diktat abtippt, kopiert er ein paar Programme von einer mitgebrachten Diskette auf die Festplatte des Computers in seinem Büro und meldet sich dann beim Großrechner des Instituts an, einer Cray Y-MP C-90. Die Wissenschaftler des Instituts reißen sich um Rechenzeit an dem Supercomputer; Lemuel ist gebeten worden, sich mit maximal vier Stunden pro Tag zu begnügen, damit die festangestellten Wissenschaftler und die anderen Gastdozenten die Cray ebenfalls nutzen können. Eilig gibt er ein paar Variable und einige Zeilen eines Computercodes ein, läßt ein Programm laufen, geht im Büro auf und ab, während die Cray mit den Zahlen spielt, und hastet zum Drucker, als dieser mit der Ausgabe der Ergebnisse beginnt. Er studiert den Ausdruck, so wie er aus dem Drucker läuft, und schüttelt frustriert den Kopf. Er ist

Weitere Kostenlose Bücher