Der Gastprofessor
überzeugt, daß irgendwo eine Variable fehlt, aber wo? Wie soll man eine Variable finden, wenn sie deshalb fehlt, weil sie eine Variable ist? Wie kann man Leidenschaft für etwas empfinden, was es gar nicht gibt?
Oj, klingt ihm der Refrain des Rebbes im Ohr, mir dreht sich der Kopf von den vielen Fragen ohne Antworten.
Gegen zehn geht Lemuel zur Teepause in Nachmans riesiges Büro, das seinem eigenen schräg gegenüber liegt. Nachmans Schreibtisch, der am einen Ende des Raums steht, ist beladen mit Zeitschriften, unbeantworteten Briefen, unvollendeten Aufsätzen und Seiten des Jewish Daily Forward, in die Sandwiches eingewickelt sind. Hinzu kommen zwei Telefone, ein Glas Senf, Elmer’s Alleskleber, mehrere Ersatz-Glühbirnen, eine alte Underwood-Reiseschreibmaschine, eine Schachtel Teebeutel, ein Klebefilm-Abroller ohne Inhalt, ein Opernglas, ein Becher mit gespitzten Bleistiften, eine Kaviardose, in der sich (wie Lemuel erfährt, als er seinen Hausgenossen näher kennenlernt) römische Münzen und Topfscherben befinden, die der Rebbe höchstpersönlich vor ewigen Zeiten bei seiner ersten Reise durchs Heilige Land in den Dünen von Caesarea gesammelt und illegal ausgeführt hat. Hüfthohe Bücherstapel lehnen an Wänden und Stühlen. Büchertürme ragen bis über die Simse und verdunkeln die Fenster. Am anderen Ende von Nachmans Büro bilden die Bücherstapel Gassen, und die Gassen bilden ein Labyrinth. Noch mehr Bücher sind auf einem Tisch in einer Ecke gestapelt und in das Regal an der Wand gegenüber den Fenstern gestopft.
Der Rebbe errät Lemuels Gedanken. »Sie sind verblüfft von der Unordnung hier. Sie fragen sich, wie ich da noch etwas finden kann.« Er hält zwei Zuckerwürfel über seine Tasse, zwinkert und wirft sie nacheinander ab wie Bomben, so daß der Tee über den Schreibtisch spritzt. Er rührt mit einem Brieföffner um. »Unordnung«, sagt er, bläst über den Tee und nimmt laut schlürfend den ersten Schluck, »ist der größte Luxus derer, die in geordneten Verhältnissen leben. Wir erschaffen ein Chaos. Wir suhlen uns in Unordnung.«
Einen Moment lang läßt sich Lemuel widerstrebend in einen düsteren Wachtraum ziehen. unscharfe Bilder von Unordnung drücken wie Migräne auf die Rückseite seiner Augäpfel. eine Flutwelle gesichtsloser Männer schwappt durch Türen und Fenster, Schuhe mit dicken, eisenbeschlagenen Sohlen treten nach Menschen, die am Boden liegen.
»In Petersburg«, erzählt er dem Rebbe und schüttelt sich wie ein aus dem Wasser kommender Hund, »haben wir in einer Art permanentem Chaos gelebt und uns in Ordnung gesuhlt, wenn wir sie irgendwo finden konnten.« Und düster fügt er hinzu: »Was nicht oft der Fall war.«
Der Rebbe nickt nachdenklich. Lemuel zuckt die Achseln. Nach einer Weile deutet er mit seiner Teetasse auf die Bücherberge. »Wie viele haben Sie?«
»Zu Hause und hier vielleicht insgesamt zwölf-, fünfzehntausend.«
»Und, haben Sie die alle gelesen?«
»Kein einziges«, erklärt der Rebbe stolz. »Juden legen mir seit Jahren Bücher auf die Schwelle wie Moses im Körbchen. Ich nehme sie an, weil sie von Gott handeln – es ist gegen jüdisches Gesetz, ein Buch zu vernichten, das den heiligen Namen Gottes enthält.«
»Eines Tages werden Sie so viele Bücher haben, daß sie Sie lebendig begraben werden.«
»Welch eine Art zu sterben … der Eastern Parkway Or Hachaim Hakadosch, zu Tode gequetscht unter einer Lawine von Büchern, die den heiligen Namen Gottes enthalten. Solcher Tod gebiert christliche Heilige.«
»Ich wußte nicht, daß Juden christliche Heilige werden können.«
Ein schiefes Lächeln erhellt Nachmans Gesicht. »Und Simon, genannt Petrus, was war der?«
Lemuel trinkt einen Schluck Tee und platzt mit der Frage heraus, die er bisher nicht zu stellen wagte. »Wenn ich bitten darf, wie kommt es, daß es einen jüdischen Rabbi, einen Gottesmann aus dem innersten Herzen Brooklyns, an ein Institut verschlägt, das sich dem Chaos widmet?«
Der Rebbe schaut Lemuel an. »Welche Version hätten Sie denn gern?«
»Wie viele gibt es?«
»Es gibt die offizielle Version, die im Hochglanz-Vorlesungsverzeichnis des Instituts steht. Und dann gibt es die mehr oder minder wahre Geschichte.«
Durch ein Grunzen gibt Lemuel ihm zu verstehen, daß ihm die wahre Geschichte lieber wäre.
»Ich will mittendrin anfangen«, verkündet der Rebbe. »Ich war Lehrer an einer Talmudschule in Saint Louis, mußte aber kündigen, als meine Studenten es sich
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