Der Gastprofessor
ist ganz aus dem Häuschen.
»Ich habe noch nie Tränen untersucht«, sagt er. Mit leicht zitterndem Finger zeigt er auf die säuberlichen Spalten mit Zahlen, die für den unbefangenen Betrachter scheinbar keinerlei Ordnung, keine Gesetzmäßigkeit erkennen lassen. »Die Zahlen beginnen genau wie bei aus dem Hahn tropfendem Leitungswasser bei Zimmertemperatur, aber dann« – er blättert zur zweiten Seite um – »spielen sie verrückt. Ich habe in Tränen geangelt, aber ich weiß nicht, ob ich Pseudo-Zufälligkeit oder reine Zufälligkeit am Haken habe.«
Lemuel, der zum erstenmal auf dieser Seite des Atlantiks seine Domäne abschreitet, klinkt sich von seinem Bürocomputer aus in die Cray Y-MP C-90 des Instituts ein. Mit einem Programm, das er noch in der ehemaligen Sowjetunion geschrieben hat, läßt er Atwaters Zahlen von dem Großrechner auf die verräterischen Spuren einer Ordnung durchforsten. Die ersten Ergebnisse sind nicht schlüssig, deshalb extrapoliert er – er erweitert Atwaters Experiment um neun hoch neun. Noch ehe eine Stunde vergangen ist, findet er einen schwach erkennbaren Pfad und schlägt ihn ein. Am frühen Nachmittag kann er am Horizont den fast unsichtbaren Schatten eines Musters ausmachen, das mathematische Porträt der Ordnung im Herzen eines chaotischen Systems, das die Chaosforscher als seltsamen Attraktor bezeichnen. Lemuel macht Atwater auf das Muster aufmerksam. Der schlampt inzwischen wieder bei den Konsonanten: »Alscho stehen Tränen doch im Zuschammenhang mit dem Chaos. Ich brauche unbedingt wasch zu trinken.«
Dunkelheit liegt über Backwater, als Lemuel Feierabend macht. »Wissen Sie schon das Neueste?« fragt ihn Mrs. Shipp, als er im Hinausgehen an ihrem Schreibtisch vorbeikommt. »Es ist in aller Munde. Der Zufallsmörder hat wieder zugeschlagen.«
Rain, die nackten Füße auf Mayday, hört aus dem Radiowecker in der Küche Nachrichten, als Lemuel auftaucht. Der Leichnam einer Studentin an einer staatlichen Universität nicht weit von Backwater ist mit einem Plastiksack über dem Kopf und einem Loch von einer.38er Kugel im Kopf in einem Keller an ein Rohr gefesselt gefunden worden. Rain ist so entsetzt, daß sie die Scheibe Vollkornweizenbrot vergißt, die sie in ihren altmodischen Toaster mit den aufklappbaren Seiten gesteckt hat. Es fällt ihr erst wieder ein, als das Brot in Flammen aufgeht. Mayday rappelt sich mühsam auf und betrachtet die Rauchwolken, die aus dem Toaster aufsteigen.
»Ich bin sogar schon zu blöd, eine gottverdammte Scheibe Brot zu toasten«, giftet sie. »Von jetzt an«, gelobt sie, während sie mit einem Küchenhandtuch die Flammen ausschlägt, »kriegt jeder Unbekannte, der in den Tender kommt, eine Ladung Lachgas in die Visage.«
Plötzlich steht das Handtuch in Flammen. Mit einem spitzen Schrei wirft sie es durch die Küche. Es landet auf einem Pappkarton mit Küchentüchern und Servietten. Im Handumdrehen brennt der ganze Karton. Rain grapscht nach der Milchtüte auf dem Tisch und versucht, das Feuer mit Milch zu löschen, aber die Tüte ist fast leer. Sie rennt zum Ausguß, füllt ein Glas mit Wasser und wirft in ihrer Panik das Glas mitsamt dem Wasser nach dem Karton, mit dem Erfolg, daß das Feuer auf einen Stapel Zeitungen übergreift. Die Küche füllt sich mit Rauch.
»Um Himmels willen, so tu doch was!« schreit sie.
Lemuel macht den Hosenschlitz auf, holt seinen Penis heraus und uriniert auf das Feuer. Zischend gehen die Flammen aus. Rain reißt das Fenster auf. Kalte Luft dringt in die Küche ein, in der es nach Rauch, Urin und verbranntem Papier stinkt. Sie schlingt die Arme um den Oberkörper und betrachtet Lemuel mit einem an Bewunderung grenzenden Ausdruck.
»Wenn ich’s mir genau überlege«, sagt sie, »läßt deine Ausrüstung doch nichts zu wünschen übrig.«
Lemuel wischt den Küchenboden mit Ammoniak auf, während Rain die Wände mit Rosenwasser besprüht. Hinterher lassen sich beide erschöpft auf die Couch fallen. Lemuel erwähnt, daß er im Backwater Sentinel eine Anzeige für einen Film von Nikita Michalkow gesehen hat, der diesen Abend im russischen Original mit englischen Untertiteln läuft. Er erwähnt, daß er sich danach sehnt, wieder einmal Russisch zu hören, aber Rain meint, sie müsse unbedingt an einer Versammlung der Siebenten-Tags-Baptisten teilnehmen, also komme es nicht in Frage, sich den Film anzusehen, und ebensowenig komme es für sie in Frage, ohne bewaffneten Begleitschutz die North Main
Weitere Kostenlose Bücher