Der Gastprofessor
Ordnung, eine Methode hinter dem Wahnsinn dieser Morde. Alles, was der Supercomputer ausspuckt, ist. Unordnung … Unordnung.
Eigentlich nicht Unordnung, hat er eben doch Word Perkins erklärt, denn die setzt bewußte Vermeidung von Ordnung voraus.
Die über den Bildschirm flimmernden Zahlen verschwimmen. Eine Ader pulsiert auf Lemuels Stirn. Er weiß auf einmal, was in der Computeranalyse der zwanzig Serienmorde fehlt. Yo! Es fehlt genau das, was er ungefähr bei der dreihundertmillionsten Dezimalstelle von Pi entdeckt hat, nämlich achtmal in Folge die Zahl acht. Es fehlt der geringste Hinweis auf gelegentliche Ordnung, die ein wesentlicher Bestandteil reiner, unverfälschter Zufälligkeit ist. Mein Gott, denkt Lemuel, ich könnte mich ohrfeigen, daß ich da nicht schon früher draufgekommen bin. Wenn die Serienmorde durch ein schlichtes, elegantes, völlig natürliches Fehlen jeder Ordnung gekennzeichnet wären, wenn sie also wahrhaft zufällig wären, würden sie zufällige Wiederholungen aufweisen. Sicher, die Stichprobe ist klein, aber irgendwo bei seinen zwanzig Morden hätte der Serienmörder dieselbe Tageszeit oder denselben Tag des Monats zweimal erwischt; er hätte jemanden ermordet, der dasselbe Alter oder denselben Beruf gehabt hätte wie eines seiner früheren Opfer. Er hätte zwei Menschen umgebracht, die rote Flanellhemden trugen.
Womit bewiesen ist, daß die Morde überhaupt nicht zufällig waren, sondern vielmehr das Werk von jemandem, der sie zufällig erscheinen lassen wollte. Aber warum sollte sich der Mörder solche Mühe geben, die Morde zufällig erscheinen zu lassen? Darauf konnte es nur eine Antwort geben: Der gemeinsame Nenner der Serienmorde, der rote Faden, der sich durch die Morde zieht, muß die unausgesprochene Theorie des Mörders sein, daß, falls er oder – warum nicht? – sie sich die Opfer rein nach dem Zufallsprinzip aussuchte, die Polizei nie über die scheinbare Zufälligkeit hinausgehen und nach einem Motiv suchen würde und die Morde daher nie aufgeklärt werden würden. Woraus sich ergibt, daß das Gegenteil zutrifft: Da die Opfer in Wirklichkeit nicht zufällig ausgesucht wurden, muß eines der Verbrechen leicht aufzuklären sein.
Aber welches? Lemuel braucht nichts weiter zu tun, als sich noch einmal die Akten der einzelnen Verbrechen vorzunehmen und bei jedem Mord hinter der scheinbaren Zufälligkeit nach dem Motiv zu suchen. einer der Morde wird ein Motiv erkennen lassen, das so offensichtlich ist, daß der Mörder das Verbrechen als einen weiteren zufälligen, unmotivierten Mord in einer ganzen Serie tarnen mußte.
Lemuel gibt neue Befehle in den Computer ein und ruft die alten Akten auf, beginnend mit dem ersten Serienmord. Plötzlich ist der Bildschirm leer. Eine Meldung erscheint: »Ihre Verbindung mit dem Cray-Computer wurde unterbrochen.« Lemuel sieht auf die Uhr. Es ist fünf nach halb zwölf.
Eigentlich stünden ihm noch fünfundzwanzig Minuten an dem Großrechner zu. Er gibt sein Paßwort ein und versucht, die Verbindung wiederherzustellen, bekommt aber nur die lakonische Mitteilung: »Zugriff verweigert.« Aufgebracht grapscht er sich das Telefonverzeichnis des Instituts und fährt mit dem Daumennagel die Spalte entlang, bis er die Nummer des Direktors gefunden hat. Er packt den Telefonhörer und wählt die Nummer. Nach dem sechzehnten Klingeln meldet sich der Direktor.
»Goodacre.«
»Hier ist L. Ficker-Falk, einer der führenden Zufallsforscher der Welt. Erinnern Sie sich an mich? Von Rechts wegen sollte ich von acht bis zwölf Zugang zu der Cray haben. Von Rechts wegen sollte ich Mitternachtsöl verbrennen dürfen.«
»Sind Sie alkoholisiert? Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Ich kann zu Ihnen sagen, daß es elf Uhr achtunddreißig ist, plusminus ein paar Sekunden. Das bedeutet, daß mir noch zweiundzwanzig Minuten Computerzeit zustehen. Sie haben mich immer wieder aus dem Großrechner gedrängt, seit wir unsere kleine Unterredung in Ihrem Büro über Rain und mich hatten. Anfangs konnte ich mich nur an den Nachmittagen mit dem Rechner vernetzen. Dann an den Abenden. Jetzt muß ich mir die Nacht um die Ohren schlagen, wenn ich in den Großrechner will.«
Der Direktor räuspert sich. »Darf ich fragen, an welchem chaostheoretischen Projekt Sie arbeiten?«
Lemuel räuspert sich. »Ich kann zu Ihnen sagen, daß der Sheriff mich gebeten hat, nach Korrelationen zwischen seinen Serienmorden zu suchen.«
»Sie korrelieren Serienmorde?«
»Ganz
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