Der Gastprofessor
recht. Um festzustellen, ob es wirklich Zufallsmorde sind.«
Ein paar Sekunden lang herrscht gespanntes Schweigen. Schließlich sagt der Direktor: »Ich möchte der Ansicht Ausdruck verleihen, daß die Aufklärung von Serienmorden am Großrechner des Instituts nicht das ist, wofür wir Sie aus Sankt Petersburg hierher geholt haben.«
Lemuel hält den Hörer auf Armlänge von sich weg und starrt ihn an. Blechern ertönt weiter die Stimme des Direktors. »Von Ihnen wird erwartet, daß Sie Ihr berühmtes Zwischenreich erkunden und nach der Zufälligkeit suchen, die ein Fußabdruck des Chaos ist. Und was tun Sie? Sie mißbrauchen den Supercomputer des Instituts zu freiberuflicher Arbeit für den Sheriff. Haben Sie auch nur eine blasse Ahnung, was Computerzeit kostet? Für eine halbe Stunde an einer Cray Y-MP C-90 wurden schon Morde begangen.«
Lemuel spürt, wie er in einen gleißend bunten Wachtraum gezogen wird. Vor seinem geistigen Auge ist er A. Newski, der teutonische Ritter mit Nazi-Stahlhelmen daran hindert, eine Grenze zu überschreiten, bei der es sich um einen zugefrorenen See handelt. Verschiedene Einstellungen von dem Eis, das unter den Füßen der Feinde in Schollen zerbricht, von Pferden, die den Halt verlieren und ins Wasser rutschen, von teutonischen Rittern, die, von ihrer schweren Rüstung in die Tiefe gezogen, unter der Oberfläche des eisigen Wassers verschwinden. Eine lange Einstellung aus Bodennähe von dem Nebel, der aus dem brodelnden See aufsteigt. Schwenk auf einen triumphierenden A. Newski, der den Blick über die Szene schweifen läßt. Auf den jetzt ruhigen See, von A. Newskis Standpunkt aus.
Soeben von der erfolgreichen Verteidigung eines Territoriums an seiner gottverdammten Grenze zurückgekehrt, hält sich Lemuel den Telefonhörer wieder an den Mund und schneidet dem Direktor mit einem Urjaulen das Wort ab. »Auch für eine Stelle am W.-A.-Steklow-Institut für Mathematik wurden schon Morde begangen. Was also sagt uns das über den Homo mathematicus, was wir besser nicht wissen sollten?« Plötzlich ernüchtert, nimmt Newski wieder seine L.-Falk-Stimme an. »Key, Stockfisch, Mord gilt allgemein als eine chaosbezogene Angelegenheit«, murmelt er. »Wenn das nicht wahr ist«, fügt er mit einem bitteren Lacher hinzu, »will ich tot umfallen.«
Bekümmert schaltet Lemuel seinen Computer aus, schließt sein Büro ab und macht sich auf den Heimweg. Auf dem Korridor fällt ihm auf, daß das Licht ungewöhnlich schwach ist, vor allem auf dem Treppenabsatz. Er könnte schwören, daß der Gang heller beleuchtet war, als er am frühen Abend sein Büro aufsuchte. Es konnte ja wohl nicht ein halbes Dutzend Glühbirnen gleichzeitig durchgebrannt sein. Er tastet nach der Pendeltür, die zum Treppenhaus führt.
Zwei Gestalten tauchen aus einer dämmrigen Nische auf.
»Falk, Lemuel?«
Lemuel prallt erschrocken zurück. »Was wollen Sie?«
»Ihr Geld und Ihr Leben.«
Lemuel schnappt nach Luft. Der zweite Schatten, hochgewachsener, schlanker, fieser als der erste, so scheint es Lemuel, lacht leise. »So was darfst du nicht sagen, Frank. Sonst kriegt er noch Schiß. Und wir wollen doch nicht, daß er sich vor Angst in die Hosen macht.«
»Es sollte ein Witz sein«, erklärt Frank feierlich.
»Ha, ha«, sagt Lemuel lahm. »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier reingekommen?«
Der zweite Schatten sagt: »Mr. Word Perkins hat uns eingelassen, nachdem wir unsere Legitimation vorgewiesen hatten.«
»Was für eine Legitimation?«
»Wir sind beide mit Pistolen bewaffnet«, sagt Frank. »Die Pistolen sind mit Schalldämpfern ausgestattet.«
Lemuels Gaumen ist plötzlich trocken wie Kreide. Im Dunkeln spürt er, wie die beiden Männer ihn auf die eigentümliche Weise ansehen, wie bewaffnete Menschen andere ansehen, die es nicht sind.
»Hey, das soll wohl schon wieder ein Witz sein?«
»Wir haben die weite Reise von Reno, Nevada, hierher gemacht, um mit Ihnen über etwas zu sprechen«, sagt der Schatten namens Frank.
»Worüber denn?« Lemuel versucht, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Worüber denn?«
»Über Ihre Zukunft«, erwidert Frank. »Das war’s doch, worüber wir mit ihm sprechen wollten, Fast Eddie, oder?«
»Genau«, bestätigt Fast Eddie. »Wir haben die lange Reise gemacht, um dafür zu sorgen, daß er eine Zukunft hat.«
»Sie sind nicht wegen der zufälligen Morde hier?«
»Sehen wir so aus?«
Fast Eddie reißt ein Streichholz an und hält die Flamme an die Spitze einer
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