Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
Bärenbrust, klammerte die Beine um die Bärenhüfte und schlang die Arme um den Bärenhals.
»Jean! Jean Potage!« Schritte stapften über die Bühne, der Affe zeterte. »Wirrd Err wohl endlich kommen!« Stephan schob den Vorhang ein Stück zur Seite, hinter ihm tobte der Affe an dünner Kette. »Jean …!« Stephan riss Augen und Mund auf wie in großem Schrecken, machte kehrt und rannte zurück zur Vorderseite der Bühne. »Jesses, Marria und Josef! Der Bärr hat ihn erwischt, der Bärr will ihn frressen, den arrmen Jean Potage!«
Das Publikum heulte auf wie ein Mann, der Affe und die Zwergin zeterten, der Rabe krächzte und die Hunde kläfften. Und David? Der stimmte ein Geschrei an, als wollte der Satan selbst ihn aufs Rad flechten. Bela, der Tanzbär, hielt ihn fest umschlungen und schaukelte auf die Bühne.
So ging das oft, seit David sich diesen Spaß vor ungefähr zwei Jahren ausgedacht und Bela darauf trainiert hatte. Und seit drei Jahren trug er das Gewand des Jean Potage, wenn sein Ziehvater auf einem Marktplatz oder hinter einem Gasthof vier Wagen zur Bühne zusammenschob: die kurze rote Jacke, die weite grüne Hose, den kleinen braunen Bauernmantel, die roten Schuhe, das Holzschwert und den berühmten, beliebig verformbaren und mit zwei langen Hahnenschwanzfedern geschmückten Hut.
Die Figur hatte Stephan bei den Italienern abgeguckt, ihren Namen und das Kostüm auf den Märkten Frankfurts, Nürnbergs und Augsburgs und den Städten des Herzogtums Württemberg.
Bald neunzehn Jahre alt war David Unterkofler an jenem Markttag zu Köln und schön anzusehen: schmal – beinahe grazil – und von mittlerer Größe, schwarzlockig, mit samtenen braunen Augen und einem Gesicht wie ein griechischer Held. Er sprach fast alle Sprachen, die man im Heiligen Römischen Reich hörte. Er hatte gelernt, mit dem Bären zu tanzen, die Laute zu zupfen und die Flöte zu blasen. Er wusste, wie man Leute zum Lachen brachteund ihnen die Gulden aus der Tasche schwatzte. Und wie viel mehr noch hatte er von dem Mann gelernt, dessen Familiennamen er trug, vom gutmütigen Krabat, der ihn unzählige Male vor den Wutausbrüchen der Landgräfin beschützt hatte, seit Davids Mutter ihren kleinen Jungen in seine Bärenführer-Arme gelegt hatte!
Bald würde ein anderer Mann Davids Leben prägen. Dieser stand bereits im Publikum und sah ihn eben von pelzigen Pranken gehalten und an eine pelzige Brust gepresst auf der Bühne erscheinen.
Die im Hinterhof des Gasthauses versammelten Kölner stießen Entsetzensschreie aus. Man möge dem armen Jean helfen bei der Heiligen Jungfrau, und einer forderte gar einen Spieß, um ihn der braunen Bestie in den Rücken zu rammen.
David hörte es gern und tat zugleich, als wüsste er nichts von denen vor der Bühne: Er schrie, wand sich in Belas Armen, schlug ihm die Faust gegen die pelzige Schulter, doch alles vergeblich, wie es schien. Der Bär presste ihn gegen die Brust, als wollte er seine zappelnde Beute nie mehr hergeben, knurrte, brummte und riss den Rachen auf, wie um sie an Ort und Stelle zu fressen.
Die an den Armen gelähmte Zwergin griff nun mit den Zehen in einen Korb voller Löffel und begann, einen nach dem anderen auf den Bären zu schleudern; keiner verfehlte sein Ziel. Stephan pfiff wie die Nachtigall, und sofort sprangen Englischer Hund, Dachshund und Affe kläffend und zeternd um die Bestie und ihre Beute herum. Auch der Rabe drehte ein paar Runden über ihren Köpfen und lärmte auf seine Weise.
An dieser Stelle wandte der scheinbar in Todesangst schreiende David wie aus Versehen den Kopf nach dem Publikum um – und verstummte. Der Schreck in seinen Zügen wich einem verlegenen Grinsen, die Verlegenheit bald der Empörung.
»Was glotzt ihr?« Als würde er sich ärgern, runzelte er die schwarzen Brauen. »Noch nie einen Bärenjäger gesehen? Dannhabt ihr jetzt den tapfersten zwischen Paris und Paderborn vor Augen!« Erstes Gelächter erhob sich unter den verdutzten Zuschauern. In Belas Pranken richtete David sich auf und griff dem Bären ins Schädelfell. »Und seht nur, was für einen prachtvollen Kerl ich gefangen habe! Er hat es nur noch nicht begriffen, der Dummpelz!«
Die Leute kreischten vor Vergnügen. Sie liebten derartige Verdrehungen der Wirklichkeit. In allen Städten und auf allen Marktflecken des Reiches war das so, und je erbärmlicher der vermeintliche Bärenjäger sich nun in den Pranken seiner vermeintlichen Beute wand, desto vergnügter klatschten und
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