Der Gaukler: Historischer Roman (German Edition)
kannte Hunger und Angst, man hatte ihn selbst oft genug ohne einen Heller in der Tasche aus einer Stadt gejagt.
Vor allem aber sah er die angstvollen Frauenaugen, sah das bleiche Kind, dachte an das brennende Haus und die schlimmen Reden, die in den Tälern und auf den Almen gingen; Reden über das, was man den Lutherischen antat, seit mit dem neuen Jahrhundert der Graf und seine Waffenknechte in den Flusstälern von Drau und Lieser und am Millstätter See hausten. »Nimm«, sagte Stephan. »Nimm und lauf! Ich hab dich nicht gesehen.«
Die Mädchenfrau lief aber nicht, kam sogar noch näher, sank schließlich vor ihm auf die Knie. »Sie sagen, wir hätten die Quelle vergiftet.« Ihre Stimme zitterte. »Sie sagen, wir hätten das Neugeborene der Bäuerin behext, damit es stirbt. Sie sagen, wir hätten Schuld an der Rinderpest im Liesertal …«
Ihre Stimme brach, sie senkte den Kopf. Stephan steckte das Brot weg, blieb ratlos vor der Weinenden hocken, berührte mit linkischer Geste ihre Schulter. Seine Frau weinte nie. Auf einmaldrückte sie ihm das Kind an die Brust, einen Knaben mit braunen Augen wie ihre, mit schwarzen Haaren wie ihre. Still war er, der Kleine, wie von Todesschrecken betäubt, aschfahl sein schmales, niedliches Gesichtchen.
Hangabwärts riefen Männer im Wald, Geäst brach unter Stiefeln im Unterholz. Die Mädchenfrau fuhr herum, ihre Zöpfe peitschten dem Bärenführer ins Gesicht. »Sie suchen uns schon.« Sie sprang auf und kramte einen Lederbeutel aus ihrem Umhang. »Beim Ewigen, möget Ihr bloß mein Kindchen retten!« Sie warf ihm den Beutel neben die Stiefel. »Bei Adonai, der das Licht der Welt hervorrief! Nehmt die Dukaten und sorgt für meinen Knaben! Ich bitte Euch!«
Wieder warf sie sich vor ihm ins Unterholz auf die Knie, griff in Stephans langes Haar, riss seine Stirn an ihre und murmelte in einer Sprache, die er nicht kannte. Ein Gebet? Einen Segen? Einen Fluch? Ehe er sich versah, riss sie ihm den Dolch aus dem Hüftgurt und säbelte sich den linken Zopf ab.
»Ich flehe Euch an«, keuchte sie, sprang auf und ließ Klinge und Zopf fallen. »Ich beschwöre Euch …« Sie wandte sich ab und rannte los. Jetzt erst nahm sie die Bärin wahr, wich ihr erschrocken aus, sprang ins Unterholz und lief den Hang hinauf in den Wald hinein.
Stephan hockte wie betäubt auf den Fersen mit dem Knaben im Arm und wusste nicht, was tun, was sagen; als wäre das warme Bündel ihm vom Himmel in die Arme gefallen. Und war es nicht so ähnlich?
Der Bärenmann wandte sich nach dem Hang um und stierte in das Gestrüpp, hinter dem die Mutter des Kindes verschwunden war. Was gab es denn dort oben, wohin sie sich retten konnte? Den Kamm, ein paar Höhlen, den Gipfel des Mirnock, den Steinbruch und auf der anderen Seite des Bergrückens den See.
»Der Steinbruch, Jesses, Maria …!« Kalt und heiß wurde ihm. »Sie wird sich doch nicht …?« Er stand auf, den Jungen im Arm.Etwas schwoll heiß und bitter in seinem Herz. Er stierte in den Rauch über den Wipfeln. »Hundsfott, verfluchter …«
Aus Gewohnheit betete Stephan zur Heiligen Jungfrau, aus Gewohnheit ging er zur Messe, wenn sich’s anbot und er in einer papistischen Stadt Zähne brach und Bärin und Hunde tanzen ließ. Heiliger Mustafa – andere hatten andere Gewohnheiten! Musste man ihnen deswegen gleich das Dach über dem Kopf abbrennen? Musste man deswegen ganze Familien ausrotten?
Stephan spuckte gegen einen Eichenstamm und meinte den Landeshauptmann, den Grafen. Vielleicht auch den Kaiser in Prag oder seinen Bischof in Wien. Vielleicht sogar den Herrgott, der so etwas duldete.
»Was mach ich denn jetzt, Cura?« Den Knaben im Arm trat er vor die Bärin. »Unsere Landgräfin wird mich stäupen, wenn ich noch einen Esser mitbringe!«
Von Marianne sprach er, seiner Frau. Er pflegte sie »Landgräfin« zu nennen oder »Landgräfin zur Wagenburg«, und das weiß Gott nicht ohne Grund. Seine Landgräfin übrigens hatte ihm keine Kinder geboren.
»Einen Esser noch dazu, der nicht mit anpacken kann.« Er seufzte, machte eine trübsinnige Miene und betrachtete kopfschüttelnd den Knaben. »Was mach ich denn jetzt?«
Beide, das neue Jahrhundert und der Knabe, waren kaum zwei Jahre alt, als Stephan, der Bärenführer, Zahnbrecher und Schausteller, mit dem Kleinkind auf dem Arm im Bergwald zwischen Drautal und Millstätter See vor seiner Bärin stand, als er stand und in die glänzenden braunen Augen des Knaben guckte und nicht wusste, was tun
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