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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Whalen Turner
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geben. »Dann erzählt mir eine Geschichte«, sagte er. »Haltet mich beschäftigt.«
    »Eine Geschichte?« Phresine war erstaunt. »Was bringt Euch auf den Gedanken, dass ich Geschichten erzählen kann?«
    »Meine Menschenkenntnis«, sagte der König. »Macht schon.«
    Phresine protestierte.
    »Eine Geschichte, sonst stehe ich auf«, drohte der König und schob die Bettdecke beiseite.
    Nun musste Phresine sich ihrerseits geschlagen geben. »Na gut.« Sie strich die Bettdecke wieder glatt. »Mir ist auch genau die richtige eingefallen.«
    »Solange sie nicht lehrreich ist?«
    »Wie meint Ihr das, Herr?« Phresine wurde wieder förmlich.
    »Ich meine, dass ich in diesem Drama hoffentlich nicht vorkomme. Ich will nicht die Geschichte über den eigensinnigen, hemmungslosen Knaben hören, der seine Fehler einsehen muss, zu einem Inbegriff des Anstands heranwächst und nie jemandem aus reiner Bosheit den Kopf abschlagen lässt.«
    Phresine lächelte. »So etwas würdet Ihr nicht tun, Herr.«
    »Vielleicht doch. Ich erinnere mich, dass ich es Eddis viele Male vorgeschlagen habe.«
    »So etwas würdet Ihr nicht tun, Herr«, wiederholte Phresine ruhig.
    »Nein, würde ich auch nicht. Ich verabscheue es, Leute zu töten. Das ist ein Geheimnis, das Ihr für Euch behalten müsst, denn ich werde künftig Leute töten müssen, ob ich nun will oder nicht. Noch ein Grund mehr, dass kein Mann, der noch recht bei Verstand ist, freiwillig König wird.«
    Phresine wirkte, als ob der bittere Humor des Königs sie sehr schmerzte, sagte aber nur: »Wie misslich.«
    »Da habt Ihr es! Erzählt mir also keine lehrreiche Geschichte.«
    »Ich doch nicht«, sagte Phresine. »Kennt Ihr die Geschichte von Klimun und Gerosthenes?«
    »Nein.«
    »Das ist kein Wunder. Es ist eine Geschichte aus Kathodicia im Norden, wo ich aufgewachsen bin. Es ist eine sehr abgelegene Gegend.«
    »Ich war schon dort.«
    »Wirklich? Das können nicht viele von sich behaupten.«
    »Ich war sechs Jahre alt. Mein Großvater hat mich dorthin mitgenommen. Ich erinnere mich an nichts außer Felstürmen.«
    »Nun, Klimun war noch vor der archaischen Zeit König über ganz Kathodicia. Er war ein großer König, ein mächtiger Herrscher, den alle achteten.«
    »Jetzt weiß ich, dass es nicht um mich geht.«
    »Still jetzt«, sagte Phresine und begann, ihre Geschichte zu erzählen.
     
    Klimun war nicht von Anfang an ein großer König. Er war erst nur ein Fürst seines Volkes, ein Basileus, in einem kleinen Tal, das von sanften Hügeln umschlossen war. In Kathodicia suchen junge Männer und junge Frauen gleichermaßen den Mondtempel auf, wenn sie die Volljährigkeit erreicht haben. Sie bringen Opfergaben auf dem Altar dar, und je nachdem, was für ein junger Mensch es ist, bittet er die Göttin um einen Gefallen oder fordert etwas von ihr.
    Phresine lächelte und gab ein Beispiel: »Oh Göttin, ich habe dir einen Silberteller gebracht, also musst du dafür sorgen, dass in diesem Jahr all meine Mutterschafe Zwillinge werfen.«
    Klimun war noch kein Annux, kein König über andere Fürsten, und wie ich schon sagte, war seine Stadt nicht mächtig. Im Gegenteil: An einem Abend, als Hungersnot, Krankheit und Tod unter seinen Leuten wüteten, schritt Klimun im Mondschein den heiligen Pfad zum Tempel hinauf.
    Seine Stadt führte schon seit vielen Jahren Krieg gegen die umliegenden Städte. Vor ihren Mauern waren die Felder von den durchziehenden Armeen abgeerntet worden, und die Olivenhaine bestanden nur noch aus Baumstümpfen. Felder können jedes Jahr neu bestellt werden, aber es hat kaum einen Zweck, Bäume zu pflanzen, die schon wieder gefällt werden, bevor sie alt genug sind, um Früchte zu tragen. Also gibt es auch keine Bäume, wenn es keinen Frieden gibt. Innerhalb der Mauern war die Stadt voller Sklaven, die Kathodicia nach Siegen gefangen genommen hatte, aber Kathodicia selbst hatte genauso oft Niederlagen erlitten, so dass viele Bürger in anderen Städten ihr Leben als Sklaven fristeten und kaum noch Kathodicier innerhalb der Mauern lebten.
    In allen Städten in der Nähe sah es genauso aus. Auf den Feldern gedieh nur wenig, in den Obstgärten gar nichts. Wenn den Leuten
das Essen ausging, blickten sie sich nach anderen um, denen sie es stehlen konnten. Die Bewohner der schwächsten Städte verhungerten. So opferten alle Städte ihren Schutzgöttern und -göttinnen und erflehten ihre Gunst, um Siege über ihre Feinde zu erringen. Als Klimun in den Tempel ging, rechneten

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