Der Gebirgspass
verließ, kehrte nicht zurück. Und nun erst, weit von der Siedlung entfernt … Oleg drehte sich um, er hatte den Eindruck, jemand sei ihm auf den Fersen. Doch nein, es war nur der Nebel. Oleg beschleunigte unmerklich den Schritt, da drehte sich Thomas zu ihm um und rief leise:
„He, halt ein bißchen Abstand, du wirfst mich um!“
Dennoch konnte sich Oleg des Eindrucks nicht erwehren, daß ihm jemand folgte.
Der Rücken von Thomas war auf einmal verschwunden, denn Thomas hatte Marjana überholt. Nun ging das Mädchen vor Oleg. Sie hatte einen schmalen Rücken, selbst in der dicken warmen Jacke wirkte er schmal. Marjana stolperte verschiedentlich, sie konnte im Dunkeln schlecht sehen. Egli sagte, das sei Nachtblindheit, doch nicht die übliche, sondern eine endemische. „Endemisch … das heißt, auf einen bestimmten Bereich begrenzt“, klang in Olegs Ohren die Stimme des Alten, als ginge er neben ihm.
„Soll ich dich bei der Hand nehmen?“ fragte Oleg.
Sie stapften durch den endlosen Nebel, in dem sie bis zu den Knien einsanken.
„Danke, nicht nötig“, erwiderte Marjana.
„Halt!“ ertönte dumpf und von weit her Dicks Stimme. „Wir sind an den Felsen!“
Gut nur, daß niemand die Höhle mit Beschlag belegt hatte. Ein Bär hätte dort Zuflucht suchen können oder noch schlimmer, eins von jenen Dämmerungs– oder Nachttieren, die schemenhaft um den Zaun schlichen, mitunter sogar daran rüttelten, weil es sie zu den Menschen zog, auch wenn sie die Menschen fürchteten. Eines Tages hatte Marjana ein kleines Ziegenböckchen aus dem Wald angeschleppt, es reichte ihr gerade mal bis zur Hüfte. Das Böckchen hatte eine nervtötende Stimme, schlimmer als die Zwillinge; das grüne Haar hing in Strähnen bis zur Erde, es stampfte mit den gepanzerten Beinen und jaulte.
„Es meckert“, hatte Waitkus damals befriedigt erklärt, „ich liebe die Stimmen von Haustieren!“
„Also ist’s ein Ziegenbock“, hatte Thomas gesagt.
Der Ziegenbock lebte bis zum Winter, wo es fast ohne Unterbrechung Nacht war, in der Siedlung. Er hatte sich an die Menschen gewöhnt, biß fast nie und hielt sich die ganze Zeit in der Nähe von Sergejews Werkstatt auf, weil es dort schön warm war. Sergejew stellte Möbel her und schnitzte Geschirr. Oleg half ihm gern dabei, denn es gefiel ihm, etwas mit eigenen Händen herzustellen. Doch dann kamen eines Nachts die Raubtiere und entführten den Ziegenbock. Marjana fand einige von seinen grünen Haarbüscheln hinterm Friedhof, aber das war dann schon im Frühjahr. Es konnte auch ein Irrtum sein.
Waitkus hatte damals gesagt: „Die Haustierhaltung merken wir uns für die Zukunft vor.“
„Um so mehr, als sie nichts einbringt“, erwiderte Egli.
Die Höhle hatte einen Nachteil — das war der breite Eingang. Sie spannten ihr Zelt aus Fischhaut quer vor diesen Eingang und entfachten ein Feuer, denn das nächtliche Viehzeug hatte Angst davor. In der Höhle war es nun fast warm, und Oleg streckte sich wohlig auf dem glatten Steinboden aus. Marjana neben ihm.
„Wie müde ich bin“, sagte sie. „Und Angst hatte ich auch.“
„Denkst du, ich nicht?“ bekannte Oleg leise. „Mir war immer, als liefe jemand hinter uns her.“
„Gut, daß ich das nicht wußte“, sagte Marjana.
Dick war mit dem Spalten der Holzkloben beschäftigt. Sie hatten das beste Holz mitgenommen, weil es langsam brannte. Thomas öffnete den Sack mit den getrockneten Pilzen und brachte einen Dreifuß mit Tiegel und Halterung zum Vorschein.
„Oleg“, sagte er, „gib mir mal Wasser.“
Das Wasser befand sich in einem Kürbisgefäß in Olegs Sack. Thomas hätte ganze zwei Schritte machen müssen, um an das Wasser heranzukommen und Oleg begriff, daß Thomas ihn aus rein erzieherischen Gründen angesprochen hatte. Er wollte keine Befehle erteilen, ihm keinen Vorwurf machen, aber der Junge sollte aufstehn und etwas tun. Obwohl — was wäre das schon für eine Arbeit. Sie hatten das Zelt gemeinsam aufgestellt, das Feuer brannte. Und ich hab ja auch noch Marjanas Sack geschleppt, dachte Oleg. Das nächste Mal bin ich nicht so kaputt, dann werd ich mich um die Wirtschaft kümmern …
Doch Oleg sprach seine Gedanken natürlich nicht aus. Und noch ehe er sich erheben konnte, streckte Dick seinen langen Arm aus, griff sich Olegs Sack und schob ihn zu Thomas.
„Laß ihn ausruhn“, sagte er gleichgültig, ohne jede Gefühlsregung. „Er ist erschöpft, hat immerhin für zwei geschleppt.“
„Na schön, soll er liegenbleiben“,
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