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Der Gebirgspass

Der Gebirgspass

Titel: Der Gebirgspass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirill Bulytschow
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Möglicherweise war sie aber auch nicht grau, sondern, angestrahlt vom letzten Widerschein des Feuers, rosafarben; auf jeden Fall schien ihr eine stumpfe Neugier, eine gelassene Beharrlichkeit innezuwohnen. Der Ziegenbock meckerte verzweifelt, flehte um Hilfe, er nahm wohl an, das Gebilde sei eigens seinetwegen hergekommen. Oleg überlegte sich flüchtig, daß diese teigige Masse für eine nächtliche Vision reichlich häßlich war. Er tastete mit den Händen das Gestein um sich her ab, konnte aber die Armbrust nicht finden. Er war allerdings auch nicht in der Lage, den Blick von dem immer näher kommenden Gebilde zu lösen, das einen säuerlichen, geradezu betäubenden Geruch ausströmte. Plötzlich nahm er wahr, daß sich ein federbesetzter Pfeil in die Flanke des teigigen Gebildes bohrte, fast bis zur Hälfte darin verschwand, um dann gänzlich hineinzutauchen. Der Teig straffte sich leicht und behende, zog sich zusammen und löste sich in Nichts auf, die Ränder des Vorhangs schlossen sich wieder, und er bauschte sich träge.
Da erst wagte Oleg, den Blick abzuwenden. Die Armbrust, die er suchte, lag zwei Zentimeter von seinen gespreizten Fingern entfernt. Neben ihm saß Dick, stramm, kräftig und frisch, als hätte er sich gar nicht erst schlafen gelegt. Er ließ die Armbrust sinken und sagte: „Vielleicht hätte ich nicht schießen, sondern erst mal abwarten sollen.“
„Weshalb hast du’s dann getan?“ fragte Marjana, die mit ausgestreckter Hand, ohne aufzustehen, die dünnen, mit einem Panzer bedeckten Beine des Ziegenbocks streichelte. Das Tier schluchzte leise vor sich hin, wie ein Kind, klagte Marjana seine Angst.
„Weil Oleg wie versteinert dasaß“, erwiderte Dick, „und dieses Zeug schon ganz dicht an ihn heran war.“ Er wollte Oleg weder kränken noch ihm einen Vorwurf machen, er sagte einfach das, was er dachte. „Ich hatte keine Zeit mehr, nach einem Holzscheit zu greifen.“
„Warst du eingeschlafen?“ fragte Thomas Oleg.
Thomas lag, unterm Kopf den Sack mit dem Dörrfleisch, in eine Decke gewickelt da. Er fror mehr als die anderen, konnte sich einfach nicht an die Kälte gewöhnen. Wenn erst der richtige Frost kommt, dachte Oleg, wird er’s am allerschwersten haben.
„Ja, ich war eingenickt“, sagte er, „ich hab es selbst nicht bemerkt. Der Ziegenbock hat mich geweckt.“
„Bist ein Prachtböckchen“, sagte Marjana zu dem Tier.
„Ein Glück, daß er dich geweckt hat“, sagte Dick und legte sich auf die Seite. Seine Hand lag auf dem Armbrustgriff, einer gelungenen, hübschen Schnitzerei. Dick hatte ihn selbst gefertigt. „Das Gebilde hätte uns allesamt verschlungen …“ Er schlief ein, ohne den Satz zu vollenden.
Thomas hatte kein Verlangen nach Schlaf. Er stand auf und löste Oleg ab, der zwar zum Schein protestierte, dann jedoch zustimmte, denn ihm fielen Augen zu. Er machte sich sogleich auf dem Boden lang. Thomas warf sich die Decke über die Schultern, er hätte gern noch etwas Holz nachgelegt, doch sie mußten sparsam damit umgehn, sie hatten nicht genug, und bald würde es richtig kalt werden. Er erinnerte sich an die Kälte, als sie das vorige Mal zum Gebirgspaß aufgebrochen waren, dachte an den tödlichen, hoffnungslosen Frost. Das war vor vier Jahren gewesen. Und zuvor vor acht Jahren. Das allererste Mal aber ein Jahr nachdem sie die Siedlung errichtet hatten. Beim zweiten Mal waren sie am weitesten gekommen. Allerdings waren von diesem Gang auch nur zwei Mann zurückgekehrt — er und Waitkus.
Thomas betrachtete die jungen Leute. Warum spürten sie nicht, daß es sich auf den Steinen hart und kalt lag? Welche Veränderungen waren in ihrem Organismus, ihrem Stoffwechsel vor sich gegangen? Das hier waren Wilde, die ihn, den Alten, mit der höflichen Herablassung von Aborigines betrachteten. Wilde, die sich mit jedem Jahr Schritt um Schritt besser in diese Welt der Einsamkeit und der Wolken hineinfanden, so sehr Boris auch bestrebt war, sie daran zu hindern. Boris aber hatte recht und zugleich unrecht. Recht hatte er darin, daß der Übergang zum Wilden unausweichlich war. Thomas konnte das an seiner eigenen Tochter, aber auch an den anderen Kindern beobachten. Doch offenbar war eben das der einzige Ausweg, die einzige Möglichkeit zu überleben. Der Gebirgspaß hingegen war ein Symbol, an das schon niemand mehr glaubte, auf das man allerdings auch nicht verzichten konnte.
Der Ziegenbock vertrat sich die Beine, seine Hufe schlugen gegen den Stein. Dick öffnete die

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