Der Gebirgspass
dieser Krankheit mit Leichtigkeit zu Leibe rücken, würde herausfinden, welcher Teil des Gehirns befallen sei und wie der Erreger auf das Nervensystem wirkte … Der Gestochene jedenfalls fing zu toben an, wurde zum Wilden, der niemanden erkannte, bereit, seinen Nächsten zu erschlagen, ohne sich später daran zu erinnern.
Als es in der Siedlung den ersten Krankheitsfall dieser Art gegeben hatte, wußte niemand, was geschehen war. Und es waren noch einige schlimme Vorfälle nötig gewesen, damit man begriff, daß mit diesem Flohfieber, diesen Anfällen nicht gekämpft werden konnte. Statt dessen mußte der Kranke gefesselt und isoliert werden. Danach galt es abzuwarten, bis der Tobsuchtsanfall vorüber und der Betreffende wieder bei Bewußtsein war. Das war alles. Später einmal, wenn man gelernt haben würde, gegen das Fieber anzukommen, wäre das vielleicht anders, jetzt aber gab es nur diesen Ausweg. Und wenn es geschah, daß jemand im Dorf vom Schneefloh gebissen wurde, einem winzigen, unbedeutenden Wesen, eilte der Betroffene ganz von selbst zu den andern und bat darum, gefesselt zu werden. In diesem Wunsch aber lag etwas Grauenvolles. Man war noch bei Gesundheit, bei klarem Verstand, und begriff schon, wie ein zum Tode Verurteilter, daß man in wenigen Minuten kein Mensch mehr sein, sondern zum bösartigen, unverständigen Tier würde. Es gab niemanden in der Siedlung, der so etwas nicht schon mit angesehen hatte. Jeder empfand Scham bei dem Gedanken, daß ihm das Gleiche widerfahren könnte. Und jeder hatte Angst vor diesen Alpträumen und Gesichtern, die einen während solcher Anfälle heimsuchten. Deshalb auch war Oleg, als er diesen charakteristischen Stich spürte, sofort hellwach und weckte die anderen.
„Dick“, sagte er schuldbewußt, „hast du einen Strick mit?“
„Was ist?“ Dick sprang auf, begann im Finstern den Platz um sich her abzutasten. Die Morgendämmerung zog gerade erst herauf. Thomas ächzte im Schlaf, erwachte aber nicht.
„Ach, was für ein Unglück!“ lamentierte Marjana. „Dich hat wirklich ein Floh gebissen?!“
„Ja, eben erst.“
Dick gähnte. „Dann hättest du dir Zeit lassen können. Du hast noch mindestens eine Stunde.“
„Es kann schon eher einsetzen“, erwiderte Oleg. „So ein elendes Pech.“
„Das hat uns wirklich noch gefehlt“, stimmte Dick zu. „Na, dann mal raus mit dir in die Kälte.“
„Ich deck dich nachher zu und bleib bei dir sitzen“, versprach Marjana.
„Verdammt“, sagte Dick und suchte nach dem Seil, „da können wir ja wieder nicht rechtzeitig los.“
„Schließlich geht es vorbei“, erwiderte Oleg.
„Nach so einem Anfall muß man mindesten zwei Stunden liegenbleiben“, sagte Dick, „das weiß ich von mir.“
Er zürnte Oleg nicht, zürnte mehr dem Schicksal, das ihnen so viele Mißlichkeiten in den Weg legte.
Die Empfindung von Kälte in der Hüfte, wohin der Floh gestochen hatte, verschwand nicht. Oleg spürte den Biß unaufhörlich und stellte sich vor, wie sein Blut, durchsetzt von einem winzigen Tropfen Gift, pulsierend zum Gehirn strömte, um es sich zu unterwerfen und ihn um den Verstand zu bringen.
Dick überprüfte in aller Ruhe den Strick, Marjana machte Feuer.
Die Dämmerung war blau und völlig anders als im Tal, wo es den ganzen Tag über grau blieb.
„Na dann laß dich mal fesseln“, sagte Dick.
„Aber paß auf, daß er sich nicht irgendwas bricht“, sagte Marjana. „Armer Oleshka!“
„Ich mach das nicht zum ersten Mal“, erwiderte Dick. „Diese Flöhe sind ein richtiges Elend. Gib dich ganz locker, Oleg, dann wird’s leichter. Und denk an was andres.“
Zunächst band er Oleg die Arme auf den Rücken, danach umwickelte er Brust und Beine. Die Stricke schnürten sich fest ins Fleisch, doch Oleg erduldete es, wußte er doch, daß einem während des Anfalls wie bei einem Geisteskranken zusätzliche Kräfte zuströmten und man bärenstark wurde. Hatte man jetzt mit ihm Mitleid, würde es nachher für alle viel schwerer werden.
Thomas stieß einen Seufzer aus. Er steckte den Kopf mit dem scheckigen, strubbeligen Haar zum Zelt heraus, blinzelte, konnte sich aber nicht besinnen, wo er war. Seine Augen waren blutunterlaufen, das Gesicht rot und gedunsen. Schließlich erkannte er Dick, der dabei war, Oleg zu fesseln. Oleg lächelte verlegen — es war ihm peinlich, den anderen Ungelegenheiten zu bereiten, unangenehm auch die Erkenntnis, daß das eigene Ich bald verschwinden würde. Der Alte hatte erzählt, daß im
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