Der Gebirgspass
Antwort wissen.
„Was denn“, Dick sprang auf, „hast du den Sack über
Nacht nicht ins Zelt genommen?“
„Ich war so müde“, sagte Marjana. „Ich dachte, ich hätte
es getan, aber er muß draußen geblieben sein.“
„Wo ist das verdammte Ziegenvieh“, zischte Dick, „das
wird sie büßen!“
„Du bist verrückt!“ schrie Marjana. „Vielleicht war sie
es gar nicht!“
„Wer sonst! Du vielleicht, Thomas, oder ich?! Was
sollen wir jetzt fressen, und wie bis zum Paß kommen!“ „Wir haben noch das Fleisch“, sagte Marjana. „Zeig her. Vielleicht ist es ebenfalls verschwunden.“ „Was soll die Ziege mit dem Fleisch?“ erwiderte
Marjana.
Doch Dick behielt recht — das Fleisch war gleichfalls
weg. Etwa zwanzig kleine Stücke waren noch übrig, mehr
nicht.
„Ich scherze nicht.“ Dick hob seine Armbrust vom
Schnee auf.
Die Ziege schien das ihr drohende Unheil zu ahnen und
sprang jäh hinter den Felsen.
„Du entkommst mir nicht“, sagte Dick.
„Warte“, rief Oleg, „so warte doch. Wenn’s sein muß,
kannst du’s immer noch tun. Marjana will eine
Viehwirtschaft aufbaun, verstehst du nicht, wie wichtig das
für die Siedlung wäre? Wir hätten auf diese Weise immer
Fleisch.“
„Für die Siedlung ist wichtig, daß wir hier nicht
verrecken“, erwiderte Dick. „Wir sind die Hoffnung des
Dorfes. Ohne uns erreicht auch die Ziege die Siedlung
nicht, weil sie nämlich gleichfalls nichts zu fressen hat. Sie
wird fortlaufen.“
„Bitte, Dick, tu’s nicht“, flehte Marjana. „Begreif doch,
sie bekommt Junge.“
„Dann kehren wir jetzt um“, sagte Dick. „Unser Marsch
ist beendet. Es hat keinen Sinn mehr.“
„Moment mal“, schaltete sich Thomas ein, „noch liegt die Entscheidung bei mir. Wenn du es willst, erlaube ich dir umzukehren. Du schaffst es in die Siedlung, daran zweifle ich nicht. Ich aber setze den Weg fort. Und mit mir
alle, die es wünschen.“
„Ich marschiere weiter“, sagte Oleg. „Wir können nicht
noch mal drei Jahre bis zum nächsten Sommer warten.“ „Ich geh auch weiter“, sagte Marjana, „und Dick kommt
ebenfalls mit. Er ist nicht so böse, wie ihr glaubt. Er
möchte nur, daß es allen gut geht.“
„Du brauchst mich nicht in Schutz zu nehmen“, sagte
Dick, „ich bring das Vieh trotzdem um.“
„Für heute reicht unser Essen noch“, sagte Marjana. „Es wär wirklich nicht schlecht, zusammen mit der
Ziege heimzukehren“, ließ sich Thomas vernehmen. „Wir
könnten sie sogar beladen. Und überhaupt kommen wir
doppelt so schnell voran wie damals.“
Thomas nahm einen weiteren Schluck Kognak und
schwenkte die Feldflasche. Nach dem Klang zu urteilen,
war nur noch ganz wenig Feuerwasser darin.
„Ein Tag noch“, sagte Dick, „dann ist es zu spät zum
Umkehren. Das betrifft dich, Thomas, in ganz besonderem
Maße. Du verstehst doch, was ich meine.“
Marjana machte sich am Feuer zu schaffe, sie hatte es
eilig, Wasser zum Kochen zu bringen. Sie hatte noch ein
paar süße Wurzeln, zwei Handvoll.
Bereits nach zwei Stunden Fußmarsch kam Oleg zu der Einsicht, daß Dick recht hatte. Sie bewegten sich auf unwegsamem Gelände, auf schneebedecktem Ödland, es führte unablässig bergauf, sie mußten immer wieder Felsen umgehen, sich durch Felsspalten zwängen, Gletscher überwinden, die Luft und war scharf und schneidend und machte das Atmen schwer. Oleg war es gewohnt, wenig zu essen, niemals satt zu werden, dennoch hatte er nie hungern müssen — irgendwelche Vorräte hatte es im Dorf stets gegeben. Hier jedoch stürzte der Hunger, ihr ständiger Begleiter, mit aller Wucht in dem Augenblick über ihn her, als klar wurde, daß endlose Tage ohne Nahrung, ohne jeden Bissen vor ihnen lagen. Oleg ertappte sich dabei, daß er begehrliche Blicke auf die Ziege warf, er hoffte, sie würde in eine Felsspalte stürzen, unverhofft draufgehn, so daß er seine Worte nicht zurücknehmen mußte. Wir werden eine andere finden, beteuerte er lautlos, ganz bestimmt werden wir eine andere finden.
Und als hätte Thomas seine Gedanken erraten, sagte er: „Ein Glück, daß unsre Fleischreserven auf eignen Füßen mitlaufen. Wir hätten jetzt nicht die Kraft, sie zu schleppen.“
„Halt!“
Es war die Stimme Dicks. Er näherte sich, ein kräftiges aus Wasserpflanzen geflochtenes Seil in den Händen, der Ziege und warf es ihr um den Hals. Das Tier ließ es gehorsam und ergeben geschehen. Dann reichte Dick das andere Ende des Stricks Marjana und sagte: „Führ du sie. Ich möchte nicht
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