Der Gebirgspass
lassen. Sein Ende lag, zu einem Ring geformt, ein paar Meter hinter ihm, doch Thomas besaß einfach nicht mehr die Kraft, zu ihm zurückzukriechen. So streckte er sich nur recht und schlecht, um den Jungen bei den Beinen zu packen, doch Oleg schlug heftig aus und schleuderte ihn, der den Schmerz nicht mehr spürte, beiseite.
Der Kranke begriff, daß er Oleg auf diese Weise nicht würde aufhalten können. Der Junge bewegte sich unaufhaltsam zum Abhang hin, denn er war, obwohl gefesselt, um vieles kräftiger als er. Also machte sich Thomas erneut daran, langsam, Stück für Stück, dem Abhang zuzukriechen, um sich zwischen ihn und den Jungen zu schieben, eine Barriere zu bilden, ein Hindernis, einen Prellbock. Er glaubte mehrere Stunden so dahinzurobben und beschwor Oleg, flehte ihn an, durchzuhalten, stillzuliegen. Aber als er endlich den schmalen Streifen zwischen Oleg dem Abhang erreichte, war der Junge bereits so weit an den Rand gerutscht, daß Thomas nichts anderes übrigblieb, als sich zwischen den Gefesselten und die spitzen Steine am äußersten Felsgrat zu zwängen.
Gewiß wäre es ihm gelungen, Oleg wenigstens um ein paar Meter zurückzurollen, aus der Gefahrenzone herauszubringen, hätte er nur den letzten Zipfel seines schwindenden Bewußtseins festhalten können. Doch er mußte einige Sekunden lang verschnaufen, ehe er sich an diese Sisyphusarbeit machte …
Marjana kam völlig außer Atem an, sie glaubte, nur wenige Minuten weggewesen zu sein, in Wirklichkeit aber war es mehr als eine Stunde. Sie lief geradenwegs zum Zelt, deshalb begriff sie nicht gleich, was passiert war. Sie sah nur, daß das Lager leer war, schlug im ersten Moment den Zeltvorhang zurück weil sie dachte, Thomas und Oleg hätten dort Zuflucht vor dem Schnee gesucht. Dabei lag das Zelt so flach auf der Erde, daß sich niemand darunter verstecken konnte.
Marjana blickte sich verstört um und entdeckte eine Spur im Schnee, die zum Felsen hinunterführte. Es sah aus, als hätte jemand eine schwere Last hinter sich hergezogen, und sogleich erstand ein schreckliches Bild vor ihr: Jenes Tier, dem die runden, faßähnlichen Fußabdrücke gehörten, hatte die beiden Männer in seinen Fängen, die Schuld daran aber trug allein sie, weil sie losgerannt war, um die Ziege zu retten, statt sich um die Menschen zu kümmern, zwei kranke Menschen in einer Schneewüste. Nie hätte sie das tun dürfen, nie. Dabei hatte sich alles ganz dumm und furchtbar entwickelt, sie hatte weder Dick eingeholt noch die Ziege gefunden, war letztlich mutterseelenallein inmitten der Felsen gewesen, hatte Angst gehabt, nicht wieder zum Lager zurückzufinden, auch um Thomas und Oleg gebangt, weil die ja hilflos waren. Schließlich war sie zurückgelaufen, so schnell sie konnte, und doch zu spät gekommen.
Das Mädchen trottete zum Abhang hinunter, schluchzend und in einem fort „Mama, Mama …“ stammelnd.
Eigenartigerweise lag ein Strick im Schnee. War es Oleg etwa gelungen, seine Fesseln abzustreifen?
Sie bog um den grauen Felsblock und sah am Rand des Abhangs Oleg liegen, noch immer zusammengebunden. Thomas dagegen war nirgends zu entdecken.
„Oleg, Oleshka“, rief Marjana, „lebst du noch?!“
Oleg gab keine Antwort. Er schlief. Nach solch einem Anfall schlief man immer. Er war allein, doch von ihm aus führte die Spur weiter nach unten, zum Abhang hin, und als Marjana einen Blick in die Tiefe warf, sah sie dort, gar nicht weit, in etwa fünf Metern Entfernung Thomas liegen, sehr still und irgendwie sogar bequem. Deshalb kam ihr nicht sofort der Gedanke, er könnte tot sein. Sie hastete hinunter, wobei sie sich die Nägel am eisigen Gestein abbrach, schüttelte den am Boden Liegenden immer und immer wieder, wollte ihn aufwecken, bis ihr jäh die Erkenntnis kam, daß sich Thomas zu Tode gestürzt hatte. Oleg aber, inzwischen wieder bei Bewußtsein, hörte den Lärm und Marjanas Weinen, und fragte mit schwacher Stimme: „Was ist los, Marjaschka, was hast du?“
Er erinnerte sich nicht im geringsten daran, Thomas hinabgestoßen zu haben. Erst später wurde ihnen auf Grund der Spuren und Olegs bruchstückhaften
Alptraumvisionen klar, was geschehen und auf welche Weise ihr Freund ums Leben gekommen war.
Nach weiteren zwei Stunden kehrte Dick zurück. Er hatte die Ziege nicht einholen können, ihre Spur verlor sich an einem großen Geröllhang. Auf dem Rückweg war er auf die Fährte eines unbekannten Tieres gestoßen und hatte sie in der Hoffnung verfolgt,
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