Der Gebirgspass
ein Wild zu schießen. Er wollte mit Beute bei den anderen eintreffen, um sagen zu können, er habe die Ziege absichtlich geschont, weil Marjana ihm leid tat. Und er war am Ende selbst überzeugt, daß sein Mitleid mit dem Mädchen den Tatsachen entsprach, denn er haßte Mißerfolge.
Als er erfuhr, was während seiner Abwesenheit im Lager vorgefallen war, verhielt er sich nüchterner und gelassener als die anderen. „Red keinen Unsinn“, sagte er zu Oleg, „du hast niemanden umgebracht und auch keinerlei Schuld — du wußtest ja gar nicht, daß du Thomas einen Stoß versetzt hast. Du mußt ihm dankbar sein, daß er dich vor dem Absturz bewahren wollte. Zwar hätte er in seinem Zustand schwerlich etwas ausrichten können, es ist sogar sicher, daß er nichts tun konnte, dennoch wollte er dich retten. Vielleicht ist es jetzt besser, daß es so kam, denn Thomas war sehr krank, hätte jeden Augenblick sterben können. Da es ihn trotzdem zu diesem Paß zog, hätten wir ihn schließlich noch tragen müssen. Das aber wäre unser Ende gewesen. Keiner von uns hätte den Paß erreicht, und niemand wäre ins Dorf zurückgekehrt.“
„Du willst Oleg bloß trösten“, antwortete Marjana, vor Schmerz mit dem Oberkörper hin und her schaukelnd — sie hatte sich die Hände erfroren und blutig geschunden, als sie Thomas wieder zu sich bringen wollte und ihn später gemeinsam mit Oleg, der vor Schwäche wankte, zum Zelt schleppte. „Du willst Oleg beruhigen, in Wirklichkeit sind wir beide schuld, du und ich. Wir haben sie im Stich gelassen. Wären wir nicht hinter der Ziege hergerannt, würde Thomas noch leben.“
„Du hast ganz recht“, erwiderte Dick, „du hättest nicht hinter mir herlaufen sollen. Das war echte weibliche Dummheit.“
„Und du selbst fühlst dich kein bißchen schuldig?“ fragte Marjana.
Thomas lag, bis über den Kopf zugedeckt, zwischen ihnen und schien bei diesem Gespräch gleichsam anwesend zu sein.
„Ich weiß nicht“, sagte Dick. „Ich hab die Verfolgung der Ziege aufgenommen, weil wir Fleisch brauchten. Wir brauchten es, um ans Ziel zu kommen. Brauchten es alle. Ich sogar am wenigsten, weil ich der Kräftigste bin.“
„Ich will nicht mehr mit ihm reden“, sagte Marjana, „er ist kalt wie dieser Schnee.“
„Ich versuch doch nur, gerecht zu sein“, entgegnete Dick. „Niemandem ist gedient, wenn wir hier herumstöhnen und uns die Haare raufen. Wir verlieren bloß Zeit. Mittag ist schon vorbei.“
„Oleg ist noch zu schwach, um zu laufen“, sagte Marjana.
„Aber nein“, erwiderte Oleg, „es geht schon. Ich muß Thomas nur die Karte und den Strahlungsmesser abnehmen. Er hat mir eingeschärft, daß ich diese Dinge auf keinen Fall vergessen darf, wenn ihm etwas zustößt.“
„Das ist nicht nötig“, entschied Dick.
„Weshalb?“
„Weil wir umkehren“, sagte Dick gelassen.
„Ist das dein fester Entschluß?“ fragte Oleg.
„Es ist die einzige Möglichkeit zu überleben“, erwiderte Dick. „Übermorgen sind wir im Wald, dort kann ich Wild erlegen. Ich bringe euch zurück in die Siedlung, ich versprech’s.“
„Nein“, sagte Oleg, „wir gehen weiter.“
„Das ist idiotisch“, sagte Dick, „wir haben nicht die geringste Chance mehr, den Paß zu überqueren.“
„Wir haben die Karte.“
„Warum klammerst du dich an diese Karte! Sie ist alt, inzwischen hat sich alles mögliche verändert. Und niemand weiß, wie lange wir uns noch ohne Nahrung durchschlagen müssen, auf nacktem Schnee.“
„Thomas hat gesagt, wir wären schnell vorangekommen und es läge nur noch ein Tag Fußmarsch vor uns.“
„Thomas hat sich geirrt. Er wollte unbedingt hin und hat uns was vorgemacht.“
„Er hat uns nichts vorgemacht, sondern versprochen, daß wir dort etwas zu essen und Sicherheit finden.“
„Ja, weil er selber dran glauben wollte. Weil er krank war und seine Sinne nicht mehr beisammen hatte. Ich aber hab sie noch beisammen, und mein Verstand sagt mir, daß wir nur am Leben bleiben, wenn wir jetzt umkehren.“
„Ich gehe zum Paß“, sagte Oleg und sah dabei auf den Körper unter der Decke. Er wandte sich mit diesen Worten gleichsam an den Toten, gab ihm das Versprechen, den Weg fortzusetzen.
„Ich gehe ebenfalls“, sagte Marjana, „kannst du das wirklich nicht verstehn?“
„Marjaschka“, begann Dick und klopfte mit seiner großen Faust gegen einen Stein, schlug gewissermaßen den Takt zu seinen Worten, „bei Oleg begreif ich’s ja noch, den hat der Alte um den Finger
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