Der Gebirgspass
gewickelt. Der wollte Oleg schon immer weismachen, daß er klüger und besser sei als wir beide, etwas Besonderes. Aber er kann gar nicht besser sein als wir, weder in der Siedlung noch im Wald, ich stell ihn überall in den Schatten. Und nicht einmal dir kann er im Wald das Wasser reichen. Versteh doch, er braucht dieses Märchen vom Paß und das Gefasel von den Wilden, die wir angeblich nicht werden dürfen. Ich fühl mich absolut nicht als Wilder und bin auch nicht dümmer als er. Also laß ihn allein weitergehn, wenn er sich seiner Sache so sicher ist. Dich aber laß ich nicht mit, ich bring dich zurück ins Tal.“
„Das sind doch alles Dummheiten, Dummheiten, Dummheiten!“ schrie Marjana. „Die Siedlung hat uns geschickt! Sie warten und setzen alle Hoffnungen auf uns!“
„Wir nützen ihnen mehr, wenn wir am Leben bleiben“, sagte Dick.
„Komm, Marjana“, sagte Oleg und streckte die Hand nach der Decke aus, um dem Toten Karte und Strahlungsmesser abzunehmen. Dabei sagte er langsam: „Verzeih, Thomas, daß du es nicht geschafft hast und daß ich mich dieser wertvollen Dinge bemächtige.“
Er schlug einen Zipfel der Decke zurück — Thomas lag mit geschlossenen Augen und wächsernem Gesicht da, die Lippen schmal geworden. Oleg brachte es nicht über sich, den kalten Körper des Mannes zu berühren.
„Warte, ich mach das schon“, sagte Marjana „einen Augenblick.“
Dick erhob sich, ging zum Felsen, wo im Schnee die Feldflasche lag. Er hob sie auf, schüttelte sie — man hörte den Kognak darin plätschern. Dick schraubte den Verschluß ab und schüttete den restlichen Alkohol in den Schnee. Ein scharfer, unbekannter Geruch hing in der Luft. Dann schraubte er die Flasche wieder zu und hängte sie sich über die Schulter. Niemand sagte etwas. Marjana gab Oleg die zusammengefaltete Karte, den Strahlungsanzeiger und das Messer von Thomas.
„Wir schaffen es nicht, ihn zu vergraben“, sagte Dick. „Wir müssen ihn den Abhang hinuntertragen und mit Steinen zuschütten.“
„Kommt nicht in Frage!“ sagte Oleg.
Dick hob erstaunt die Brauen: „Und was schlägst du vor?“
Oleg fand es töricht zu erwidern, daß man Thomas nicht mit Steinen bedecken dürfe. Der Gefährte war ja tot — ihn störte das nicht mehr.
Dick erledigte alles allein, Oleg und Marjana gingen ihm lediglich zur Hand. Kein einziges Wort wurde mehr gewechselt. Oleg und Marjana packten schweigend ihre Sachen zusammen, ergriffen die nunmehr ganz leichten Säcke — sogar Holz nahmen sie nur für ein– bis zweimal Feuermachen mit —, teilten die letzten Stücke Dörrfleisch in drei Teile, und Marjana brachte Dick seine Portion. Der steckte das Fleisch wortlos in die Jackentasche. Dann brachen Oleg und Marjana auf, gingen, ohne sich nochmals umzudrehen, bergauf in Richtung Paß.
Dick holte sie nach etwa hundert Metern ein. Holte sie ein, überholte sie und setzte sich an die Spitze. Oleg fiel das Laufen schwer; die Folgen des Anfalls waren noch nicht vorüber. Marjana hinkte; sie hatte sich das Bein verletzt, als sie den Abhang hinuntergeklettert war. Sie bewältigten ganze zehn Kilometer, dann mußten sie zur Nacht Rast machen.
Oleg ließ sich in den Schnee fallen und schlief sofort ein. Er wurde nicht einmal wach, um sich an heißem Wasser mit süßen Wurzeln sattzutrinken. Und so sah er auch nicht, was Dick und Marjana erblickten, nachdem es völlig finster geworden war: Die Wolken verzogen sich jäh, und am Himmel traten die Sterne hervor, die noch niemand von ihnen je zu Gesicht bekommen hatte. Dann schoben sich erneut Wolken davor. Marjana schlief nun gleichfalls ein. Dick aber blieb noch lange am erloschenen, warmen Feuer sitzen. Er hielt die Füße darüber und sah zum Himmel auf, hoffend, die Wolken würden sich erneut verziehn. Er hatte schon oft von den Sternen gehört, die Alten sprachen immer wieder von ihnen, doch er hatte keine Ahnung vom Gefühl der Größe und Weite gehabt, das die Menschen bei ihrem Anblick überkam.
Sie standen früh auf, tranken eine gehörige Portion abgekochten Schneewassers und aßen die restlichen Süßwurzeln, von denen sich der Hunger eher verstärkte. Sie kamen an diesem Tag langsamer voran als sonst, schleppten sich nur mit Mühe vorwärts, selbst Dick war erschöpft.
Das Schlimmste aber — sie wußten nicht, ob sie auf dem richtigen Weg waren. Die Karte enthielt einige Orientierungspunkte, die jedoch nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmten. Wie sollten sie auch: Damals waren die Leute
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