Der Gedankenleser
zuckte zusammen, riss seinen Kopf herum, wurde knallrot und starrte mich entgeistert an. Die beiden plaudernden Damen an unserem Tisch verstummten auf der Stelle, ebenso wie ein paar andere Gäste an benachbarten Tischen.
Nun hatte sich der junge Mann gefangen, hob seinen Kopf etwas, streckte die Brust heraus und sagte in harschem Ton: »Sie Idiot, was ist denn mit Ihnen los? Ich habe kein Wort zu Ihnen gesagt. Überhaupt, für mich sind Sie Luft, so einen wie Sie nehme ich gar nicht wahr. Was wollen Sie eigentlich?«
Immer noch hoch erregt und provoziert von seiner Arroganz, antwortete ich: »So ein verlogenes Arschloch ist mir ja noch nie begegnet!«
Mein Gott! Genau in diesem Augenblick kam ich zur Besinnung und mir wurde klar, in welch peinliche Situation ich mich gebracht hatte.
»Beruhigen Sie sich doch«, sagte der alte Mann neben mir freundlich und beschwichtigend. Die beiden Damen an unserem Tisch schüttelten empört den Kopf. Und schon stand eine Kellnerin direkt neben mir, und mein Feind zischte sie an: »Ich möchte sofort den Geschäftsführer sprechen!«
Vor Scham wäre ich am liebsten mehrere Hundert Meter tief im Boden versunken. Meine Arme zitterten. »Es ist sicher alles nur ein Missverständnis«, hörte ich den alten Mann noch sagen, da spürte ich auch schon eine kräftige Hand an meiner Schulter. Es war der Geschäftsführer, den Ich flüchtig kannte. »Es ist wohl besser, wenn Sie jetzt zahlen und gehen. Und dann wollen wir Sie hier nicht mehr sehen!«
Mein Mund war staubtrocken, mein Kopf glühte, und meine rechte Hand fand zunächst vor lauter Aufregung nicht den Weg in die Gesäßtasche, wo sich mein Portemonnaie befand. Aber dann gelang es doch. Ich warf hektisch zwanzig Euro auf den Tisch, stand auf, wollte schon gehen, blieb dann aber doch noch ein paar Sekunden stehen und schaffte es, meinem Feind kurz in die Augen zu schauen und ein ver-huschtes »Entschuldigen Sie bitte« hervorzubringen. Eine Reaktion wartete ich nicht mehr ab, sondern hastete quer durch das Café nach draußen auf die Straße. Dann machte ich mich so flott davon, als hätte ich gerade eine Bank überfallen. Erst als der »Tatort« außer Sichtweite war, blieb ich stehen und besann mich.
Was für eine Blamage.
Wie sehr ich mich hatte gehenlassen.
In der ersten Zeit nach dem Blitzunfall war so ein Verhalten ja noch verständlich gewesen. Immerhin hatte ich auf den Arzt und auch auf Anna in ähnlicher Weise reagiert, wenn auch nicht so heftig. Nun aber, da ich über mich und meine »Gabe« Bescheid wusste, war ein solches Benehmen unfassbar dumm und unverzeihlich.
Ich fühlte einen stechenden Schmerz in der Magengegend, das Herz war immer noch in Aufruhr, und erschöpft lehnte ich mich an den Mast einer Straßenlaterne.
Ich hatte in einem Lokal Hausverbot bekommen. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ich konnte es kaum glauben.
Hoffentlich war unter den Gästen kein Bekannter gewesen. Hoffentlich erstattete mein Feind nicht noch Anzeige gegen unbekannt wegen Beleidigung - und irgendwann würde man dann meine Identität herausbekommen.
Hoffentlich versuchte der Geschäftsführer nicht, etwas über mich in Erfahrung zu bringen. Immerhin kannten wir uns vom Sehen ja schon viele Jahre ...
Ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf stand.
Für diesen Tag hatte ich genug vom Gedankenlesen. Ich beschloss, sofort nach Hause zu fahren und mich in mein Zimmer zurückzuziehen. Bloß keine Menschen mehr in meiner Nähe!
Der Eklat im Café Walldorf hatte jedoch auch eine gute Seite. Er war mir eine so deutliche Lehre, dass mir (mit zwei kleinen Ausnahmen) danach nie wieder ein solches Missgeschick passiert ist. Ich hielt stets meinen Mund, waren die Gedanken, die ich hörte, auch noch so absonderlich, beleidigend oder erschreckend.
8
Schon einen Tag nach meinem Ausflug in das Kaffeehaus hatte ich mich wieder gefangen.
Was mich wunderte, denn mir war nach meiner Disziplinlosigkeit hundeelend zumute gewesen, und am liebsten hätte ich dieses sonderbare neue Leben schnell wieder in mein altes zurückverwandelt. Alles sollte so sein, wie es früher gewesen war. Das wünschte ich mir. Normal und berechenbar. Ich wollte diese »Gabe« nicht. Ich hatte nicht um sie gebeten. Warum war sie gerade mir zugefallen? Alles geriet durch sie aus den Fugen. Ich hatte Angst, fühlte mich machtlos und einsam.
Ob es noch andere »Gedankenleser« auf der Welt gab? Die auch schwiegen und unentdeckt lebten? Oder war ich der
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