Der Gedankenleser
übers Kinn und trank schließlich den Rest meines Brandys.
Ich war fasziniert.
Von meiner Fähigkeit.
Die mir einfach so in den Schoß gefallen war.
Die mir ungeahnte Möglichkeiten eröffnete.
Schon immer hatte in mir ein domestizierter Voyeur gelebt, der sich ab und zu meinem moralischen Urteil widersetzte und hemmungslos versuchte, auf seine Kosten zu kommen. Nach mehr oder weniger heftigen inneren Kämpfen war es mir dann aber fast immer gelungen, ihn wieder in seine Schranken zu weisen. Jetzt allerdings sah die Lage anders aus. Meine »Gabe« hatte ihn entfesselt. Der Voyeur in mir konnte ungehindert seiner Lust frönen. Nichts stellte sich ihm in den Weg. Nur bei Anna hatte sich kurzfristig mein Gewissen gemeldet, weil ich es für unredlich hielt, ihre Seele zu belauschen. Dies bei fremden Menschen zu tun brachte mich zu jenem Zeitpunkt aber keineswegs in einen moralischen Konflikt. Ich sah darin nicht einmal ein Problem. Meine Gier, die Geheimnisse der Menschen zu erfahren, überschattete alles.
Der Alte und seine absonderlichen Gedanken interessierten mich sehr. Wieder lehnte ich mich ein wenig in seine Richtung und blickte mal nach rechts, mal nach links. Aber diesmal hörte ich nichts. Dafür sahen meine inneren Augen ein Meer von Grün. Der alte Mann dachte also nichts Konkretes, sondern war ergriffen von einer tiefen Traurigkeit. Er schaute ernst auf die vor ihm stehende kleine Bierflasche und drehte sie ein wenig hin und her. Ich empfand Mitleid für ihn. Er lebte offenbar in großer Einsamkeit und Bitternis. Wahrscheinlich wie so viele alte Menschen. Da ich auch nach einige» Minuten nichts weiter von ihm empfing als die Farbe Grün, wandte ich mich ab und rückte mit meinem Stuhl ein paar Zentimeter zur Seite, in Richtung des jüngeren Mannes, der seine Zeitung inzwischen in einen schicken, dunkelbraun glänzenden Aktenkoffer gesteckt hatte. Und sofort war die Stimme präsent, sie sprach so schnell, wie ich es vorher noch nie gehört hatte:
... wenn ich am Wochenende das Essen gebe und mein Chef mit Anhang kommt, muss alles perfekt laufen. Mit was beeindrucke ich den Affen wohl am meisten? Seine Alte ist ja ein geiles Stück. Darf mir nicht anmerken lassen, dass ich auf sie steh. Muss vorher noch auf die Sonnenbank, zum Friseur ... Ich freu mich wie bekloppt auf das Cabriolet. Noch zwei Wochen, dann ist es da. Das wird die Kollegen beeindrucken. Gut, dass meins eine Nummer kleiner ist als das vom Chef. Er hat's nicht gern, wenn man besser dasteht als er ... Wie lästig, muss bald die Tante im Pflegeheim besuchen, sonst nerven die Eltern wieder. Ich hasse dieses Heim. Allein schon der Geruch dort. Und sie gafft mich ja doch nur dämlich an, die kriegt doch nichts mehr mit ... Was sitzen hier eigentlich für zwei Idioten neben mir? Der Alte könnte gerade vom Bau kommen. So ein Hemd würde ich nicht mal zum Joggen anziehen. Und wie ekelhaft die Pickel auf seiner Glatze sind. Tränensäcke und dreihundert Falten im Gesicht. Bah ... Und der andere?
Damit meinte er wohl mich.
Auch kein Vorzeigestück. Was macht der wohl beruflich? Pauker? Beamter? Keine Ahnung. Ebenfalls scheiße angezogen. Poloshirt, na super. Und die Schuhe? Wanderschuhe. Dacht ich's mir doch. Hat wohl gerade eine Bergtour durch die Stadt gemacht.
Der Mann musterte eingehend meine Füße und grinste hämisch. Bis er dann langsam an mir hochschaute und sich unsere Blicke für einen ganz kurzen Moment begegneten. Ich tat so, als sei das reiner Zufall gewesen, und vertiefte mich in die Speisekarte.
Groß ist der Kerl, bestimmt eins neunzig. War ich auch gerne. Kommt bei den Weibern besser an. Aber er hat null Stil. Passt hier ebenso wenig rein wie der Alte. Vielleicht ist er arbeitslos. Bingo, so wird's sein. Hätt ich auch gleich draufkommen können. Der Kerl ist arbeitslos. Und ich füttere ihn mit durch. Wenn ich die ganzen Abgaben auf meiner Gehaltsabrechnung seh, könnte ich das große Kotzen kriegen. Und für was wird die viele Kohle ausgegeben? Für solche Penner wie den hier. Trinkt auch noch Cognac auf meine Kosten und sitzt mit seinem Arsch hier faul rum. Man müsste gegen diese Parasiten viel härter vorgehen ...
Das war zu viel! Was maßte sich der Mistkerl da an? Dieser Lackaffe! Ich geriet komplett außer Kontrolle.
»Haben Sie noch alle Tassen im Schrank? Sie kennen mich doch überhaupt nicht! So was Dämliches ist mir ja noch nie untergekommen!«, schrie ich ihn an.
Er
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