Der Gedankenleser
nichts. Außer zu immer neuen und tieferen Verletzungen. Sie hatte alles Entscheidende nur allzu genau gedanklich zum Ausdruck gebracht. Was wollte ich noch mehr? Ich hatte das Gefühl, erschöpft und mit leerer Seele am Boden zu liegen.
»Was wird nun?«, fragte sie.
Und ohne zu überlegen und die Tragweite meiner Worte zu bedenken, sagte ich: »Es geht nicht mehr, Anna. Ich finde, wir sollten uns trennen. Lass uns alles schnell abwickeln. Ich möchte/dass wir die Achtung voreinander nicht verlieren.«
Ich stand auf, verließ die Terrasse, ging ein paar Schritte auf unsere Wiese und schaute, von Anna abgewandt, in den azurnen Himmel. Ich empfand nichts. Keine Traurigkeit, keine Angst, keinen Zorn.
»Ich ziehe in ein Hotel, heute schon«, sagte ich.
Anna begann zu weinen, aber das interessierte mich nicht.
»Lass uns zu einem Eheberater gehen«, schluchzte sie nach einer Weile.
»Es gibt nichts mehr zu beraten.«
»Ich möchte dich nicht verlieren.«
»Wir haben uns längst verloren.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«
»Weil ich es so empfinde! Weil wir uns lange genug etwas vorgemacht haben. Weil die Zeit zu kostbar ist, als dass man sie mit Lügen vergeuden dürfte.«
Die Worte kamen einfach so aus mir heraus. Ich überlegte sie mir nicht.
Anna schluchzte immer noch, aber sie sagte nichts mehr.
In diesem Moment berührte die Sonne das Wasser unseres kleinen Gartenteiches, und die gebrochenen Strahlen blitzten so hell und funkelnd in meine Augen, als würden sie mir mitteilen wollen: Das Leben ist schön. Das Leben ist verrückt. Das Leben will immer wieder neu beginnen.
So stand ich eine Weile da und genoss dieses plötzliche Lichtspiel, konnte gar nicht genug davon bekommen.
Dann sagte ich: »Es gibt kein Zurück mehr, ich werde jetzt gehen.«
Anna saß zusammengesunken auf dem Terrassenstuhl, sie schien unter sich zu blicken, ihre grauen, langen Haare verdeckten das Gesicht. Sie hatte aufgehört zu weinen.
9
Wir haben nie mehr über uns gesprochen. Unsere vierzehn gemeinsamen Jahre fanden ihren Abschluss mit jenem nicht zu Ende gebrachten Frühstück auf unserer Sonnenterrasse.
Wie erschütternd, dass nur ein paar Sätze schnell und zielgenau ein ganzes Leben zerstören können. Das Anna-Arne-Leben war unwiederbringlich vernichtet. Daran gab es für mich keinen Zweifel. Wobei ich natürlich im Vorteil gewesen war, weil ich die ganze bittere Wahrheit aus Annas Gedanken herausgehört hatte. Worüber hätte ich noch mit ihr sprechen sollen (ohne mich zu verraten)? Ich war restlos bedient. Anna jedoch hatte wenig gesagt und mich noch weniger gefragt, trotzdem war offensichtlich auch für sie alles klar. Auch sie schien nicht mehr zurückzuwollen und verspürte wohl kein Bedürfnis, weitere klärende Gespräche zu führen. Sie nahm alles so hin, wie es sich entwickelt hatte. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie ich mich wohl verhalten hätte, wären mir ihre Gedanken verborgen geblieben. Hätte ich überhaupt ein Beziehungsgespräch begonnen? Zu jenem oder zu einem späteren Zeitpunkt? Wäre es nicht auch für mich nur allzu bequem gewesen, im gewohnten Trott weiterzuleben? Hätte Anna irgendwann den ersten Schritt getan und ihren Unmut geäußert? Oder wären wir in den festgefahrenen Ritualen unserer Ehe alt geworden und allmählich verkümmert? Wie es so vielen Paaren ergeht ... Und nach vierzig Jahren, weil dann nichts anderes mehr möglich gewesen wäre, hätten wir uns als glücklich bezeichnet, hätten die lange Zeit des Zusammenseins sogar als Triumph oder besondere Leistung angesehen.
Auch ich war ja ein Meister der Verdrängung gewesen, so wie Anna. Nach unseren Neubauaktivitäten wäre uns bestimmt wieder etwas anderes eingefallen, das uns von unserer Beziehung hätte ablenken können.
In der ersten Zeit nach unserem »Todesfrühstück« fühlte ich mich verletzt, ja zerstört, und war wütend. Wie hatte Anna mir all das antun können? Noch nie war ich so anhaltend und perfekt belogen worden. Zumindest hatte ich es nicht bemerkt. Mir war, als hätte sie mir einen beachtlichen Abschnitt meiner Lebenszeit geraubt. Hätte ich um ihre wahren Gefühle und Einstellungen gewusst, wir wären damals nie und nimmer zusammengekommen. Ich hätte mich nicht auf sie eingelassen, mein Leben wäre ganz anders verlaufen. Ehrlicher. Vielleicht hätte ich eine Frau kennengelernt, die eine wirkliche Geliebte und Partnerin für mich gewesen wäre. Mit der ich mich körperlich und auch geistig
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