Der Gedankenleser
fragte sie.
»Nichts, geht schon wieder ... Warum schlafen wir nicht mehr miteinander?«, hörte ich mich sagen.
Anna wurde knallrot und schaute mich an, als hätte ich gefragt, wann sie vorhabe, sich ihre Schamlippen verkleinern zu lassen. Aber nach kurzer Pause erwiderte sie: »Dasselbe könnte ich dich auch fragen.«
Nun befand ich mich in einer Sackgasse. Was sollte ich antworten? Hatte ich zuvor das Gespräch geführt, so war jetzt sie in der besseren Position. Ich schwieg.
Er wird genauso wenig die Wahrheit sagen können wie ich. Ich macht ihn nicht verletzen. Wie schlimm das alles ist. Er würde für mich durchs Feuer gehen, das weiß ich, aber ich begehre ihn überhaupt nicht. So ist es nun mal. Hab mich lange genug selbst belogen. Wer guckt der Wahrheit schon gerne ins Gesicht? Ich habe ihn noch nie begehrt. Noch nie. Nicht mal damals beim ersten Mal. Ich hob ihm immer was vorgespielt. Ich wollte nur einen guten Freund, eine Familie, Sicherheit. Die Zeit davor mit Max war so zermürbend.
Ich ging zurück zur Terrasse und setzte mich. Mir war, als hätte ich einen Blick ins Jenseits getan. Mein Herz schlug langsam, fast zögerlich, ich spürte einen merkwürdigen Druck auf meinen Ohren und wusste nicht, was in diesem Moment mit mir passierte.
Dann kam auch Anna zurück auf die Terrasse, blieb vor mir stehen und streichelte meinen Kopf.
Bei ihm war es früher anders. Da bin ich mir sicher. Erfand meinen Körper anziehend. Wann hat er aufgehört, mich zu begehren? Wir haben so gute Zeiten erlebt. Aber eigentlich hing immer ein Schatten über uns. Er tut mir so leid. Ich bin an allem schuld. Ich hab die Zweifel und Bedenken verdrängt und geschwiegen, all die Jahre. Was soll ich jetzt bloß sagen?
»Vielleicht haben wir zu hohe Ansprüche«, meinte sie dann.
Ich entwand mich mit einer kurzen Drehung aus ihrer Liebkosung, denn noch immer lag ihre Hand auf meinem Kopf.
»Zu hohe Ansprüche? So nennst du das?«
»So nenne ich was?«
»Unsere Sprachlosigkeit. Unser fehlendes Begehren füreinander. Unsere Angst vor konkreten Fragen.«
»Du dramatisierst! Wir haben doch ein so schönes Leben gehabt. Ach, was rede ich? Wir haben ein schönes Leben!«
»Jetzt auf einmal? Gerade hast du noch gesagt, unser Leben sei eintönig.«
Sie zog sich einen Gartenstuhl heran und nahm neben mir Platz. Für ein paar Sekunden hielt sie beide Hände vors Gesicht.
Jetzt bricht alles zusammen, ich spür es, alles werd ich verlieren. Und wer will mich dann noch haben? So, wie ich mittlerweile aussehe? Eingefallen, grau, alt, faltig. Ich bin für keinen Mann mehr attraktiv. Niemand wird mehr mit mir schlafen wollen. Meine besten Jahre habe ich an Arne verplempert.
Ich blickte über unseren säuberlich geschnittenen Rasen und schwieg. Denn auch mein Leben brach nun vollkommen auseinander.
Von Anna hörte ich plötzlich nichts mehr, sondern sah nur noch ihre Angst und ihre Traurigkeit. Auch ich brachte keinen vernünftigen Gedanken zustande, stattdessen rasten bruchstückhaft Gedichte, die ich oft gelesen hatte und sehr mochte, durch meinen Kopf:
Nebelland hab ich gesehen, Nebelherz hab ich gegessen ...
Alles was schön ist, doch dem Tode geboren
Dies ist deine Stunde, o Seele, dein freier Flug in das Wortlose
Die Welt - ein Tor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt ...
Wo kein Meer wogt, drängt das Herzwasser
Seine Gezeiten herein ...
»Wir sollten jetzt aufhören, über uns zu sprechen. Wir sind zu aufgewühlt. Lass es uns verschieben«, sagte Anna.
»Verschieben? Auf wann? Und warum? Denkst du, dadurch wird die Situation besser? Das ist doch absurd«, erwiderte ich mit leiser Stimme.
Ich trau mich nicht, noch irgendwas zu sagen. Wenn wir uns trennen, was wird dann aus dem Haus? Und wie soll ich es Mutter erklären? Ich hab noch nie alleine gelebt ... Könnte ich das überhaupt? Ich will Arne nicht verlieren. Es gibt keinen besseren Mann. Ich steh vor einem Scherbenhaufen. Ich hatte immer weniger Luft zum Atmen in unserer Ehe. Ja, so war es. Wir haben uns betäubt und abgelenkt mit all unseren albernen Aktivitäten. Das ewige Reisen. Das Fallschirmspringen. Der Reiseführer. Und dann das Haus. Das verfluchte Ding. Tausend Gespräche haben wir über jedes Detail geführt. Aber über die Details unseres Lebens haben wir nicht gesprochen. Bitte, bitte, Arne, verlass mich nicht.
Ich hatte kein Interesse mehr, ihren Gedanken weiter zuzuhören. Warum auch? Es führte zu
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