Der Gedankenleser
Lachen, Husten, schepperndes Geschirr, gedämpfte Musik im Hintergrund. Die Raumluft war erfüllt von allerlei Düften. Es roch nach Kaffee, Kuchen, Schokolade und Parfüm. Am Klavier allerdings saß heute niemand.
Auf den ersten Blick schien das Lokal überfüllt zu sein, und mein Stammplatz war natürlich besetzt. Was mich aber nicht sonderlich ärgerte, denn gerade heute suchte ich ja die Nähe zu anderen Gästen. Also schaute ich mich um und versuchte irgendwo einen freien Stuhl oder Sessel ausfindig zu machen. Ein schwieriges Unterfangen, denn es war wirklich
viel los an jenem Nachmittag. Schließlich entdeckte ich einen leeren Platz, und zwar mitten im Raum an einem großen runden Tisch. Dort saßen bereits vier Leute. Zwei elegante Frauen mittleren Alters, die offensichtlich zusammengehörten, da sie sich sehr angeregt miteinander unterhielten, und zwei Männer, die wohl wie ich auch Einzelgäste waren. Der eine, ein Mann von etwa dreißig Jahren und sehr gepflegtem Äußeren, war in seine Zeitung vertieft, die Times. Der andere wirkte einfacher und bodenständiger, ich schätzte ihn auf etwa siebzig Jahre, er hatte eine Glatze und trug ein rot kariertes langärmliges Hemd, das bis zum Hals zugeknöpft war. Schweigend rührte er in seinem Kaffee. Ich ging hin zu dem Tisch, fragte, ob der Stuhl zwischen den beiden Männern noch frei sei, alle nickten, und ich setzte mich.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte die Kellnerin.
»Schwarzen Tee und einen Brandy, bitte.«
»Sehr gerne.«
Kaum hatte ich meine Bestellung aufgegeben, da meldete sich auch schon die Stimme. Aber diesmal sprach sie Englisch, was mich zunächst verwirrte, zudem sagte sie seltsame Dinge, auf die ich mir keinen Reim machen konnte.
Von der wirtschaftlichen Situation in Saudi-Arabien war da die Rede, von Aktienkursen, Investmentfonds, der Entwicklung des Goldpreises und von Freihandelsabkommen. Und dann, mitten im Redefluss, ohne nennenswerte Pause, wechselte die Stimme ins Deutsche, und ich hörte sie sagen:
Morgen kauf ich mir neue Schuhe.
Was war mut das? Verblüfft schaute ich mich um, blickte meinen Nachbarn ins Gesicht, nahm einen Schluck Tee, der inzwischen serviert worden war, und konnte das Gehörte nicht einordnen.
Sie müssen teurer aussehen, als sie sind. Irgendwo hat ich doch von einem Laden gelesen, der gute Imitate verkauft. Aber ich hab die Adresse vergessen, shit.
Als ich bemerkte, dass der gut gekleidete jüngere Mann an unserem Tisch jetzt ziellos in der Gegend herumschaute, begriff ich.
Er hatte zuvor in der Times gelesen.
Ich konnte also auch das hören, was Menschen still lasen. Das Gelesene wurde quasi zu Gedanken, die sich mir dann offenbarten. So war es gerade gewesen. Und mitten im Text hatte der junge Mann plötzlich innegehalten und über seinen Schuhkauf nachgedacht. Ich verstand und war erleichtert.
Eine wohlige Wärme erfüllte mich, als ich den ersten Schluck Brandy nahm. Ich lehnte mich entspannt zurück und dann ein wenig zur Seite, in Richtung des älteren Herrn, der, genauso wie ich, seine Blicke nun über das Geschehen im Café schweifen ließ.
Ich möchte mein Leben nicht noch einmal leben. Es gab viel zu wenig gute Jahre. Und jetzt sind alle tot. Ich bin alleine. Würde ich morgen früh nicht mehr aufwachen, so war es auch egal.
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«, fragte die Kellnerin den älteren Herrn.
»Ach ja, gerne. Ein alkoholfreies Bier, bitte!« Die Frau nickte wortlos und war sehr schnell wieder verschwunden.
Je älter ich werde, desto merkwürdigere Gedanken hab ich ... Sind das die Anfänge einer Demenz, werd ich schwachsinnig? Das Gefühl, schon sehr oft gestorben zu sein. Sehe mich mit dem Tod ringen. Immer und immer wieder. Mal als Ertrinkender. Mal als Schwerstkranker. Mal als Soldat mit einer Schusswunde in der Brust. Manchmal sogar als Tier, von einer Raubkatze verfolgt und dann zerbissen. Wie absurd. Woher kommen diese Vorstellungen? Ich bin sicher, ich war schon mal tief im Weltall. Aber nicht als Mensch, sondern irgendwie anders - als Geistwesen. Überall göttliche Stille und Unendlichkeit. Vielleicht zerfällt mein Gehirn allmählich. Deshalb diese Fantasien. Warum guckt mich der Mann so an?
Ich fühlte mich ertappt. Denn tatsächlich hatte ich mich, angezogen von den Gedanken des Alten, etwas herumgedreht und ihn dann wohl mit tumber Mine angestarrt.
Sofort schaute ich zur Seite, räusperte mich, strich mir verlegen
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