Der Gedankenleser
bestens verstanden hätte. Vielleicht wäre ich auch allein geblieben und hätte so eher den Mut gefunden, mich meinen Unzulänglichkeiten zu stellen. Vielleicht aber wäre ich auch völlig vereinsamt, was jedoch allemal besser gewesen wäre als ein Leben in Lüge.
Seltsamerweise hielt sich mein Zorn auf Anna in Grenzen, denn der Schock unserer Trennung hatte mich gewaltig aufgerüttelt. Schließlich gehören zu jeder gescheiterten Ehe immer zwei Personen. Auch ich trug ein gehöriges Maß an Schuld. Ich hatte es mir in unserer Zweisamkeit bequem gemacht, ich war träge geworden, und jede Gefühlsregung, die einen kritischen Gedanken über Anna und mich hätte hervorbringen können, verdrängte ich oder betäubte sie durch irgendwelche Aktivitäten. Nie stellte ich mir rigorose Fragen und zwang mich damit zu ebenso rigorosen Antworten.
Unser gemeinsames Leben, im Grunde eine blutleere Routine, war allzu verlockend für einen ängstlich veranlagten und harmoniebedürftigen Menschen wie mich gewesen. Nicht nur, dass ich jede Auseinandersetzung unsere Ehe betreffend gescheut hatte, ebenso war ich in diesen Jahren allen grundsätzlichen Lebensfragen aus dem Weg gegangen. Als junger Mann hatte ich mit Freunden ganze Nächte durchdiskutiert: Gibt es Gott? Warum bin ich? Was ist der Sinn des Lebens? Welche Werte sind maßgeblich? Was ist gut? Was ist böse? Hat Nietzsche Recht - oder Kant? Wie lebt man richtig? Was ist der Tod? Gibt es ein Lebensziel? Wie fremdbestimmt sind wir? Wäre es besser, niemals geboren worden zu sein? ...
Irgendwann verlor ich das Interesse an den philosophischen Gesprächen, die Freunde verstreuten sich in alle Winde, ich wollte in meinem Beruf vorankommen, hatte eine Affäre nach der anderen und lernte schließlich Anna kennen. Und die war, das spürte ich schnell, ohnehin keine Gesprächspartnerin für existenzielle Fragen. Die Welt hinter den Dingen interessierte sie nicht. Selbst ihren Beruf als Psychologin sah sie eher als handwerkliche Tätigkeit. Es galt, die Seele zu reparieren, die Menschen wieder lebenstüchtig zu machen.
Was denn nun aber das Leben sei - diese Fragestellung war Anna gänzlich fremd. Auch über den Tod mochte sie nicht sprechen. Ich erinnere mich an einen gemeinsamen Spaziergang über den legendären Pariser Friedhof Père-Lachaise. Am Grab von Jim Morrison sagte sie: »Ich finde das alles schrecklich hier, lass uns zurück in die Stadt gehen. Von so vielen Toten umgeben zu sein ist ja grauenhaft. Ich lebe - und über alles andere möchte ich gar nicht nachdenken.« Ich weiß noch, dass ich ein wenig zusammenzuckte. Denn tief in mir empfand ich ihre Äußerung als Provokation. Zeugte sie doch von Kleinmut oder gar Erbärmlichkeit, eine solche Haltung hätte ich meiner damaligen Arbeitskollegin Nadine, die am Ende eines Telefonats gerne »Okey-dokey« sagte, zugetraut, nicht jedoch meiner Frau Anna. Aber schnell wischte ich die irritierenden Gefühle beiseite, und gemeinsam schlenderten wir zurück in die pulsierenden Gassen von Paris.
Im Nachhinein betrachtet, gab es sicher unzählige Situationen, die mich an Anna hätten zweifeln lassen können, ich wollte dergleichen aber partout nicht wahrhaben. Ich ignorierte alles, was sie oder auch uns infrage gestellt hätte. Unglaublich, wie gefühlsbetoniert ich gelebt hatte. Und das aus reiner Bequemlichkeit. Anna war nie ein wirklicher Gegenpol für mich gewesen. In den meisten Fällen schloss sie sich meinen Gedanken und Meinungen an. Mit einer Ausnahme: Ein Kind wollte sie im Gegensatz zu mir nicht adoptieren. In diesem Punkt war ihre Haltung eindeutig. Das hatte ich gespürt und deshalb nicht einmal versucht, sie zu überreden. Gott sei Dank. Denn wäre noch ein dritter Mensch, ein Kind, im Spiel gewesen - ich weiß nicht, welchen Lauf die Dinge genommen hätten. Sicherlich wäre mir die Trennung wesentlich schwerer gefallen. Trotz meines Wissens um ihre wahren Gefühle.
Die schlimmsten Anna-Gedanken, die ich gehört hatte und die mir schwer zu schaffen machten, waren:
»Meine besten Jahre habe ich an Arne verplempert ... Ich habe ihn noch nie begehrt, nicht mal damals beim ersten Mal ... Ich habe ihm immer was vorgespielt.«
Sätze wie Atombomben. Die auch den letzten Rest von Wehmut in mir vernichteten. Was Gnade und Unheil zugleich war. Gnade, weil ich meiner Ehe nicht im Geringsten nachtrauern musste - und Unheil, weil mein Menschenbild in nie gekanntem Ausmaß erschüttert worden war. So also
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