Der Gedankenleser
später.
Warum hatte ich mich eigentlich damals in Anna verliebt?
Diese Frage ist für mich aus heutiger Sicht sehr schwer zu beantworten. Das Entsetzen und die Enttäuschung lassen kaum eine objektive Analyse zu. Und mir widerstrebt es beinahe, Positives über Anna und unsere gemeinsame Zeit zu formulieren. Aber ich will es dennoch versuchen.
Als ich Anna kennenlernte, übrigens auf einer Maifeier bei einem Arbeitskollegen, fiel sie mir wohltuend auf. Sie hatte so gar nichts Weibchenhaftes an sich. Sie wirkte bodenständig, wenig eitel, nicht zickig, sondern freundlich und sogar etwas kumpelhaft. Alle meine Partnerinnen vor Anna waren das genaue Gegenteil gewesen, was ich erotisch und sexuell anziehend fand, aber ansonsten ging mir dieser Frauentyp zunehmend auf die Nerven. Vielleicht witterte ich damals etwas Ähnliches in Anna wie sie offenbar in mir: Mit diesem Menschen kann man eine solide Partnerschaft aufbauen, jenseits der üblichen Mann-Frau-Rituale. Denn ich war dieser Rituale so überdrüssig geworden und sehnte mich nach einem ruhigen Zuhause. Aber Anna gefiel mir auch. Das muss ich sagen. Besonders ihre Beine und ihre Augen waren mir sofort aufgefallen. Und ihr Lächeln. Zudem war sie eine gute Gesprächspartnerin, wenn auch nicht für alle Themen; wir lachten über dieselben Dinge und entdeckten schnell viele gemeinsame Interessen. Das Reisen zum Beispiel. Ich glaube, wenn wir nicht so viel und so oft durch die Welt gefahren wären, wir hätten uns schnell angeödet. Das Reisen aber war eine wunderbare Droge. Wir konnten gar nicht genug davon bekommen. Wochen, ja Monate waren wir manchmal mit den Planungen und Vorbereitungen für einen ungewöhnlichen Trip beschäftigt. Da blieb weder Zeit noch Lust, über uns nachzudenken oder gar zu sprechen. Der beiderseitige Wunsch nach einem Kind lenkte unsere Aufmerksamkeit dann noch mehr von unserer Beziehung ab. Ich hegte vielleicht sogar die diffuse Hoffnung, dass ein Kind unsere Ehe würde beleben können. Denn schon in jenen Jahren, als wir uns so sehr um Nachwuchs mühten, empfand ich in Annas Gegenwart manchmal Langeweile, was ich mir aber natürlich nicht eingestand. Es war eher eine stille Ahnung, die nie wirklich in mein Bewusstsein drang. Von Jahr zu Jahr jedoch wurde sie mächtiger. In der Zeit vor meinem Blitz-Unfall hatte ich ja in besonders bedrückter Stimmung gelebt. Ich war mit meinem Leben, das von außen betrachtet durchaus positiv verlief, gar nicht mehr zufrieden gewesen. Die beiden Hauptgründe dafür waren, heute kann ich sie klar benennen: meine Arbeit und Anna. Ich hatte das Interesse an meiner Frau völlig verloren. Und so kam es, dass Paul, unser Hund, meinem Herzen um ein Vielfaches näherstand als meine Frau Anna. Als Paulchen starb, glaubte ich für kurze Zeit, die Erde würde aufhören, sich zu drehen.
Was ich wohl empfunden hätte, wenn zu jenem Zeitpunkt Anna verstorben wäre?
Überhaupt, der Hund: Noch mehr als das Reisen lenkte er uns von unserer ruinösen Ehe ab. Eigentlich war er ein Kindersatz. Wir trugen ihn auf Händen und verbrachten ungezählte Stunden damit, uns über ihn zu unterhalten. Wie er zu erziehen sei, wie man alle nur erdenklichen Hundekrankheiten von ihm fernhalten könnte, welche Fellpflege denn nun die beste wäre oder welcher Urlaubsort auch für ihn besonders schön sein würde.
Bevor Paul in unser Leben trat, war es immer wieder vorgekommen, dass Anna und mir der Gesprächsstoff ausging. Wir hatten uns einfach schon alles erzählt, jeder kannte die Ansichten des anderen. Also sprachen wir über dieselben Dinge, über die wir schon dutzendmal geredet hatten, noch ein weiteres Mal, was, zumindest bei mir, stets einen schalen Geschmack hinterließ. Waren wir der alten, wiedergekäuten Storys endgültig müde, so wichen wir auf belanglose Themen aus. Was wir jedoch nicht bewusst taten, es geschah von selbst, und ich fand es normal. An eine Situation allerdings erinnere' ich mich, da funktionierte dieser Automatismus nicht, da überkam mich plötzlich eine beklemmende Leere. Wir saßen an einem kühlen Sonntagnachmittag in unserem sehr nett und gefällig eingerichteten Wohnzimmer. Der Kamin brannte, und draußen regnete es heftig. Man konnte die Tropfen auf die Blätter der Bäume prasseln hören. Wir hatten gerade Kaffee getrunken und dazu Sachertorte gegessen. Das sonntägliche Kaffeetrinken gehörte zu unseren unumstößlichen Ritualen. Anfangs hatte mir diese Zeremonie auch immer gut gefallen,
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