Der Gedankenleser
und ich freute mich geradezu darauf, mit den Jahren aber erschien sie mir fast zwanghaft, und meine einzige Freude bestand nur noch darin, reichlich Kaffee zu trinken und viel Kuchen zu essen. Wir saßen also da, ich pappsatt und vom Koffein etwas nervös geworden, als Anna ein Gespräch über den verregneten Sommer begann.
Genau in diesem Moment packte mich für Sekunden eine beinahe unbändige Lust, die gottverdammte Kaffeetafel kurz und klein zu schlagen, die schmierige Torte an die Wand zu klatschen und Anna anzuschreien: Halt den Mund! Halt den Mund! Ich kann nicht mehr! Mich kotzt dieses Gequassel unendlich an!
Aber dazu kam es nicht. Mir gelang es, meine Gefühle zu bändigen und die aggressiven Gedanken schnell wieder zu unterdrücken. Ich stand lediglich wortlos auf, ging zum Fenster, schob die Gardinen zur Seite und schaute hinaus. Nach ein paar Minuten sagte ich dann in fast ruhigem Ton: «Ich muss mal zum Auto, ich glaube, ich habe es vorhin nicht abgeschlossen.«
Als ich von der Straße zurückkam, war alles wieder beim Alten.
So befremdend es angesichts meines Rückblicks auf unsere Khe klingen mag - bis zum Schluss gab es auch Erlebnisse, Situationen, Vorkommnisse, die ich als sehr schön und zu Herzen gehend empfand. Diese Erinnerungen vagabundierten noch lange durch meinen Kopf. Sie hatten beinahe etwas Exotisches für mich. Denn perfekt spiegelten sie Glück und Lüge in einem Bild wider.
Da denke ich zum Beispiel an diese Szene:
Anna und ich sitzen in der sonnendurchfluteten Stille eines Hochsommernachmittags auf einer Bank am Lago Maggiore. Wir essen große, süße Pfirsiche. Flüchtiger Wind kräuselt das Wasser, und die Luft riecht nach Oleander und Lavendel. »Jetzt müsste die Zeit stehenbleiben«, sage ich zu Anna, »und zwar für immer.« Sie legt ihren Arm um meine Schultern und nickt.
Oder:
18. Februar, mein Geburtstag, in unserem Trennungsjahr. Anna weckt mich. Sie steht mit einem großen, in gelbes Papier gepackten Karton vor meinem Bett. »Es ist dein Glückstag heute, Tiger, der Frühstückstisch ist gedeckt, der Champagner geöffnet, und das hier ist mein Geschenk für dich. Ich gratuliere dir von Herzen zu deinem Geburtstag!« Ich bin noch ganz benommen vom Schlaf, richte mich auf, sie gibt mir einen Kuss auf den Mund und reicht mir das große Paket. Es ist recht schwer. Ich bleibe im Bett sitzen und mache mich daran, es zu öffnen. Was mir zunächst nicht gelingt, da es rundherum gut verklebt ist. Aber dann schaffe ich es, und eine große Menge Holzwolle quillt mir entgegen. Ich greife mit beiden Händen hinein, taste, fühle, packe zu - und hole schließlich eine etwa fünfzig Zentimeter große Bronzereplik des Dornausziehers aus dem Karton heraus. Das ist eine Freude! Hatten Anna und ich das Original doch gemeinsam bei unserer letzten Romreise im Palazzo dei Conservatori so sehr bewundert.
Oder:
Palmsonntag, zwei Jahre vor unserer Trennung. Richard Strauss, »Letzte Lieder« in der Philharmonie, interpretiert von Jessye Norman. »Vielleicht ist Musik in ihren besten Momenten eine Brücke zu Gott, eine Brücke zum Höheren«, denke ich, nehme Annas Hand, drücke sie. »Es ist das Bewegendste, was wir je gehört haben«, flüstert Anna mir ins Ohr.
Diesen Rückblenden stellte ich stets entgegen:
» ... meine besten Jahre habe ich an Arne verplempert ...«
Die meisten schönen Erinnerungen aber, die mich mit meiner Frau verbanden, waren durch ihre eindeutigen Gedanken in sich zusammengefallen und hatten sich zu Staub und Dreck verwandelt. Vierzehn Jahre Lug und Trug.
Zweimal hatte Anna während unserer Zeit sogar die berühmten drei Worte gesagt.
Ich nur einmal. Und zwar auf unserer Hochzeitsreise, in Rio de Janeiro. Es war eine sternendurchflutete, heiße Sommernacht, und wir saßen am Strand von Copacabana. Ich meinte es ernst, fühlte mich rundherum glücklich und machte mir keine Gedanken darüber, dass sie nicht sagte: »Ich dich auch.«
Als Anna mir ihre Liebe bekundete, einmal in der Silvesternacht zum neuen Jahrtausend, einmal direkt nach dem Kauf von Paulchen, schwieg ich.
Wäre es nicht zum Bruch zwischen uns gekommen - ob sie es noch einmal zu mir gesagt hätte? Vielleicht in einer besonderen Situation, in der sie sich ihr Leben, trotz widersprüchlicher Gefühle und Überlegungen, schönmalen wollte?
Wann hatte sie wohl aufgehört, sich selbst zu belügen?
Ich wusste es nicht. Und im Prinzip war es auch egal.
Alles in
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