Der Gedankenleser
konnte sich eine Person verstellen? Sogar gegenüber dem Menschen, der ihr der vertrauteste war? Und das über so viele Jahre hinweg?
Hätte ich die schreckliche Wahrheit nicht gewusst, bestimmt wären mir nach unserer Trennung unzählige Situationen aus dem Arne-Anna-Leben in den Sinn gekommen, die ich verklärt hätte. Nur selten erscheint einem ja im Rückblick alles nur düster und schlecht. Zumal der Mensch dazu neigt, das Traurige oder Schlimme zu vergessen und das Schöne zu konservieren. Ich aber hatte nun nichts mehr zu konservieren. Ich musste mit der Tatsache fertigwerden, vierzehn Jahre lang sinnlos gelebt zu haben. So zumindest war mein Empfinden.
Und die Liebe? Was war mit der Liebe gewesen?
Ich für meinen Teil hatte geliebt. Nicht unbedingt euphorisch, dafür aber tief und aufrichtig. Wie lange, kann ich nicht sagen, nicht mehr rekonstruieren. Später wurde daraus eine vertraute Gewohnheit, aber ich wagte es nicht, sie bei diesem Namen zu nennen. Ich nannte auch sie ganz einfach »Liebe«. Und so vergingen die Jahre.
Das Gefühl der Demütigung, das mich bis heute überschwemmt, wenn ich an unser Sexleben denke, kann ich gar nicht zum Ausdruck bringen.
Nie hatte sie mich begehrt!
Offensichtlich kein einziges Mal!
Immer war sie mit den Gedanken woanders gewesen, vermutlich bei Max. Jedes Stöhnen, jedes lustvolle Röcheln (ja, das hatte es gegeben), jeder leidenschaftliche Schrei (auch so etwas kam ab und zu vor) war gespielt gewesen? Hatte sie je einen Orgasmus mit mir erlebt? Wahrscheinlich kein einziges Mal. Aber selbst wenn es dazu gekommen sein sollte, hatte sie sich in jenem kulminierenden Moment alles andere vorgestellt als mich, meinen Körper, mein Geschlecht oder unsere Liebe. So verlogen also konnte das Leben sein. Und ich hatte von alldem nichts gemerkt oder auch nur geahnt. Jedenfalls nicht, solange wir noch regelmäßig miteinander schliefen. Vor meinen Füßen hatte sie sich geekelt - ob ihr mein Körper überhaupt zuwider gewesen war? Meine Gerüche, meine Haut, mein Atem, mein Sperma?
Sie hatte sich auf mich lediglich aus strategischen Erwägungen heraus eingelassen. Wie sie zu jener Zeit wohl über sich selbst dachte? Wusste sie, was sie tat? Oder handelte sie intuitiv? Wie auch immer - sie wollte eine Familie gründen, einen loyalen Mann haben, in geordneten Verhältnissen leben und sich von der für sie so schwierigen Zeit mit Max erholen. Gewundert hatte ich mich damals schon, dass sie so schnell zu heiraten wünschte. Mir war der Trauschein egal gewesen. Meinetwegen hätten wir nie ein Standesamt von innen gesehen. Sie aber drängte darauf. Und so kam es, dass wir bereits im ersten Jahr unserer Beziehung, wir waren gerade mal zehn Monate zusammen, das Aufgebot bestellten. Und ich machte mit, weil sie es gern wollte. Auch in diesem Zusammenhang ist mir eine Aussage von Anna im Gedächtnis geblieben, die mich, so wie ihr Satz über den Tod, kurz stutzig werden ließ. Als es mal wieder um das Thema Ehe und Heiraten ging und ich mich ein wenig zurückhaltend zeigte, sagte sie: »Ich möchte eine ganz normale Frau sein, die ein ganz normales Leben führt und ganz normale Dinge tut.« Da flackerte für Sekunden Verachtung für sie durch mein Herz. Obwohl ich selbst durchaus normgerecht, ja spießig lebte, entsprach dies nicht meiner wirklichen Überzeugung. Im Stillen hegte ich Sympathien für das Rebellische, Unangepasste, Anarchische. Schon allein die Formulierung »normales Leben« weckte in mir eher abschreckende Assoziationen denn sehnsuchtsvolle. Das alles aber war schnell wieder vergessen, und schon einen Monat später standen wir vor dem Standesbeamten. Ich ließ die Zeremonie über mich ergehen, danach gab es noch ein schönes Essen mit ein paar Freunden und Verwandten -und schon war der Spuk vorbei. Übrigens hatten wir zu jener Zeit noch Freunde. Später nicht mehr. Ein Kontakt nach dem anderen schlief allmählich ein - und zu guter Letzt gab es nur noch ein paar Bekannte. Allesamt ohne Bedeutung für mich. Wir hatten uns so sehr in den Kokon unserer Beziehung eingesponnen, dass schlichtweg weder Zeit noch Interesse für andere Menschen übrig geblieben war. Selbst mein bester Freund Moritz, den ich seit der Schulzeit kannte, entfernte sich von mir. Irgendwann rief er einfach nicht mehr an. Zu oft hatte ich ihm einen Korb gegeben, und so verloren wir uns aus den Augen. Erst nach der Trennung von Anna versuchte ich den Kontakt wiederzubeleben. Aber dazu
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